Der Streit um das Wort "Hetzjagd" ändert nichts

07.09.2018

Immer öfter wird um Worte statt um die dahinter liegenden Probleme gestritten. Warum sich Zuwanderungspolitik-Gegner so sehr auf den Begriff „Hetzjagd“ stürzen.

Als Regierungssprecher gibt Steffen Seibert seine Stellungnahmen auch im Namen der Bundeskanzlerin ab. Vor zehn Tagen verurteilte er „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft“ und den Versuch, „Hass auf den Straßen zu verbreiten“. Am Tag zuvor wurde die Polizei in Chemnitz der Situation kaum Herr: Zahlreiche Rechtsextremisten instrumentalisierten die Proteste mit Hassparolen und Gewalt, nachdem ein 35-jähriger Chemnitzer mutmaßlich von Flüchtlingen erstochen wurde.

Bevor Seibert Regierungssprecher wurde, war er einer der Topjournalisten des ZDF . Zu dem Handwerkszeug der Medienprofis gehört das sogenannte „Zuspitzen“. Als Regel gilt unter seriösen Journalisten: Auf den ersten Blick trockene oder bisweilen langweilige Themen werden so zugespitzt, dass das Interesse einer breiten Masse geweckt wird. Umgekehrt geben Profis dramatische Ereignisse dagegen sprachlich möglichst nüchtern wieder, um die Wucht der Geschehnisse wirken zu lassen.

Chefredakteur aus Chemnitz: Es bedarf keiner Dramatisierung

Das war schon vor über hundert Jahren so, als Zeitungen die simple Schlagzeile wählten „Der Kaiser ist tot“ und nicht „Der Tod des Kaisers erschüttert das Land“. Umgekehrt schreiben Medien heute nicht: „Die Koalition diskutiert, ob sie die Sozialbeiträge um 0,3 oder 0,5 Prozentpunkt senken soll“, sondern spitzen zu: „Koalition streitet um Entlastung der Bürger“.

Der Chefredakteur der in Chemnitz erscheinenden Zeitung Freie Presse, Torsten Kleditzsch, erinnerte kurz nach den Krawallen an journalistische Grundregeln: Es bedarf keiner Dramatisierung. So begründete er in einem viel beachteten Beitrag, warum seine Zeitung den Begriff „Hetzjagd“ nicht verwende. „Der offen zutage getretene Hass, der die Proteste auf den Straßen in Chemnitz am Sonntag begleitet hat, war schrecklich genug.“ Allenfalls der Begriff „Jagdszene“ sei angesichts der Angriffe am Rande der Demonstration gerechtfertigt.

Ob Seiberts Formulierung übertrieben oder falsch war, wird sich zeigen

Vor diesem Hintergrund war Seiberts Formulierung sicher sehr zugespitzt. Ob sie übertrieben oder falsch war, wird sich zeigen, vorausgesetzt die sächsischen Ermittlungsbehörden sind fähig, die Vorwürfe aufzuklären. Ob die Formulierung in Seiberts besonders herausgehobener Funktion klug war, lässt sich heute schon sagen: Nein.

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Allerdings ist man hinterher immer klüger, daher würde es dem Regierungssprecher gut anstehen, seine Formulierung zu erklären oder zu rechtfertigen. Denn im politischen Streit – und die Debatte um die Folgen der Zuwanderungspolitik spaltet das Land – reißt auch eine Argumentationskette immer an ihrem schwächsten Glied.

Rechtsextremismus bleibt nicht nur für Ostdeutschland eine Gefahr

Aus diesem Grund stürzen sich die Gegner der Zuwanderungspolitik von der politischen Mitte bis nach extrem rechts außen jetzt so sehr auf den Begriff „Hetzjagd“ und angeblich als Beweis kursierende Videos. Nur, selbst wenn diese Kette an diesem Punkt reißen sollte, ändert sich nichts am von zahlreichen Fernsehkameras festgehaltenen Aufmarsch von Rechtsextremisten, die mit „Ausländer raus“-Chören und Hitlergruß durch Chemnitz marschierten und mehrere Menschen attackierten. Und Rechtsextremismus bleibt nicht nur für Ostdeutschland eine Gefahr.

Es ist ein wachsendes Problem in Politik, Medien und Gesellschaft, dass immer öfter um Worte, statt um die dahinter liegenden Probleme und deren tiefe Ursachen gestritten wird. Es wird lieber empört, statt differenziert und debattiert.

"Wir schaffen das" - Wenn ein Satz zum Symbol wird

Über Angela Merkels griffigen Satz „Wir schaffen das“ wurde am Ende mehr geredet als über ihre Politik. Der Satz wurde zum Symbol. Und um Symbolpolitik wird heute oft heftiger gestritten, als um echte Lösungen gerungen: Horst Seehofer legte einen „Masterplan“ vor und löste lieber wegen symbolischer Grenzzurückweisungen eine schwere Regierungskrise aus, als kompromissbereit Überzeugungsarbeit für seine Pläne zu leisten.

Auch Parteien wie die SPD, mit ihrer ohne Finanzierungskonzept präsentierten Rentengarantie oder die linke „Sammlungsbewegung“ zielen im Wesentlichen auf die „Stimmung“ der Bevölkerung ab. Wenn aber nur die – im Internetzeitalter immer größere – Lust an der Empörung angeheizt wird, laufen die Politiker und Parteien Gefahr, selbst in einer Welle des Unmuts unterzugehen.

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