Die Presse zum Brexit: "Selbst ein harter Brexit wäre keine Katastrophe"
Die Medien beschäftigen sich vor allem mit den Folgen der Abstimmung - für Großbritannien, für die EU und für Deutschland. Die Pressestimmen zum Brexit-Votum.
"Wenn die Briten diesen Verbund verlassen wollen, sollen sie gehen. Aber London scheint ja nicht mal in der Lage, seine eigene Zukunft gestalten zu können. Von Europa in dieser Situation Einlenken oder gar Entgegenkommen zu erwarten, ist unsinnig. Denn so lange niemand weiß, wer auf der Insel welche Mehrheit für welche Position hat, erübrigt sich jeder Kraftakt, den man im Sinne einer auch künftig guten Partnerschaft ja versuchen könnte. Selbst wenn die EU sich bewegen wollte - sie weiß ja nicht mal, in welche Richtung." Rhein-Zeitung
Pressestimmen zum Brexit: "Die EU steht ungleich besser da"
"Es ist nicht zu erwarten, dass May einen mehrheitsfähigen Brexit-Deal zusammenschustern kann. Und was dann? Labour-Chef Jeremy Corbyn hat soeben erfolglos versucht, mit einem Misstrauensvotum Neuwahlen zu erzwingen. Wenn auch diese Option nicht greift, bleiben nicht mehr viele Alternativen. Das Land ist auf Autopilot: Gesetzlich vorgeschrieben bleibt, dass Großbritannien am 29. März aus der EU austritt, mit oder ohne Deal." Badische Neueste Nachrichten
"Man kann nicht mit jemandem verhandeln, der gegen alles, aber nicht für irgendetwas ist. Der Realitätsverlust der Brexiteers hat Ausmaße erreicht, die Zweifel an der Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen auf der Insel wecken muss. Wie will London denn als Partner für künftige Freihandelsabkommen ernst genommen werden, wenn die Regierung nicht einmal in der Lage ist, die eigene Zukunft sauber zu gestalten? Die EU steht da ungleich besser da: Sie hat unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Errungenschaften verteidigt und sich nicht von ihrem Kurs abbringen lässt." Augsburger Allgemeine (Lesen Sie hier den Kommentar)
"Manche in der EU hoffen, dass Großbritannien seinen Antrag auf den Austritt zurückzieht oder in einem zweiten Referendum absagt. Doch das ist eher ein Ausdruck von Ratlosigkeit denn ein Beleg für Realitätssinn: Zwar ist der Exit vom Brexit juristisch möglich. Doch müsste diese Entscheidung in London fallen, was unwahrscheinlich ist. Und ein zweites Referendum würde die britische Gesellschaft nur weiter spalten." Leipziger Volkszeitung
"Die Briten zeigen gerade, wie schnell europäische Errungenschaften den Bach runtergehen können. Und wie gefährlich es ist, wenn die Stimme der Vernunft kein Gehör mehr findet. Großbritannien in seiner aktuell besorgniserregenden Verfassung wäre dafür nur ein Vorgeschmack. Gerade deshalb gibt es aber Grund zur Hoffnung. Welche Regierung in Europa mag ihren Bürgern einen EU-Austritt jetzt noch zumuten?" Mannheimer Morgen
"Die Briten liegen schon am Boden, hoffentlich wird kein EU-Staat nachtreten"
"Der Ausgang eines zweiten "people's vote" gilt mitnichten als sicher. Je länger der Brexit die britische Gegenwart verdüstert, desto mehr rumort es unter der Oberfläche: Bloß raus aus der EU-Zwickmühle! England hat keine europäische Identität gewonnen, die EU ist und bleibt ihm fremd. Eine Wiederholung des Ausgangs wie 2016 ist daher durchaus möglich. Schlimmer noch könnte es im gegenteiligen Fall ausgehen, wenn die Brexit-Befürworter eine "Dolchstoßlegende" in die Welt setzen, wenn das Ergebnis von 2016 umgekehrt würde. Wie könnte Großbritannien, derart angeschlagen, je in der EU Respekt gewinnen? Brexit, der Unfriedensstifter. Gesucht: ein Helfer in der Not." Die Welt
"Auf der Insel gibt es eine Adels- und Geld-Elite, der es letztlich egal ist, wer unter ihr das Land regiert. Der es auch egal ist, welche Folgen der Brexit hat - weil sie das leicht aussitzen können, ganz im Gegensatz zu Normalbürgern oder sozial Schwachen, die angesichts der Folgen vor allem eines harten Brexits durchaus um ihre Jobs bangen müssen. Boris Johnson ist der Auffälligste unter diesen sehr britischen Politikern, von denen viele noch von der alten Großmachtrolle des British Empire träumen. David Cameron gehört(e) auch dazu. Sie gehen gern volles Risiko, ohne Rücksicht auf Verluste." Nürnberger Nachrichten
"Jetzt bleibt nur das Spiel auf Zeit. Sollten die Briten demnächst eine Verlängerung der Austrittsfrist über den 29. März hinaus beantragen, weil sie bis dahin wissen, wie ein geregelter Brexit gelingen kann, wird hoffentlich kein EU-Staat nachtreten. Die Briten liegen schon am Boden. Wenn sie mehr Bedenkzeit brauchen, um geistig wieder zu Kräften zu kommen, sollte die EU einem solchen Antrag zustimmen - nicht nur Großbritannien zuliebe, sondern vor allem zu ihrem eigenen Vorteil." Hannoversche Allgemeine Zeitung
"Im Gegensatz zu den Behauptungen der Brexit-Hardliner hat auch die EU kein Interesse an einem ungeregelten Austritt der Briten. Verhandlungsführer Michel Barnier malte die Folgen nochmals in den schwärzesten Farben: In allen Bereichen, wo das Austrittsabkommen Übergangsregelungen bis zu einem neuen Partnerschaftsvertrag vorsieht, würde Chaos herrschen - mit negativen Folgen nicht nur für die britische Bevölkerung, sondern auch für die Menschen auf dem Kontinent. Was also liegt näher, als die Frist bis zum Austritt zu verlängern, bis ein für alle Seiten tragbarer Kompromiss gefunden ist? Die EU hat eine lange Tradition darin, die Uhr anzuhalten und in Nachtsitzungen alle Beteiligten so lange zu zermürben, bis das scheinbar Unmögliche doch geschafft wurde. Beim Brexit aber sind nicht Regierungen am Zug, sondern die Abgeordneten in Westminster. Deren Gründe, den Deal abzulehnen, sind so widersprüchlich, dass es keinen Kompromiss geben kann, der alle zufriedenstellt." Schwäbische Zeitung
Pressestimmen zum Brexit: "Auch Brüssel, Paris oder Berlin müssen handeln"
"Mit dem Brexit ist sehr viel mehr gefährdet als nur die gute Nachbarschaft zu den Briten. Es geht um mehr als freien Warenverkehr und lästige Staus an Grenzübergängen - es geht letztlich um den Anfang der möglichen Zerstörung eines Projekts, das jahrzehntelang Frieden, weitgehende wirtschaftliche Stabilität und politische Teilhabe garantiert hat. Weil es ein so hoher Preis ist, der zu zahlen wäre, darf das Spiel auf keinen Fall im Chaos enden und für immer "aus" sein. Dazu muss auch die EU ihren Beitrag leisten. Nun zuzuschauen und den Briten die alleinige Schuld am drohenden Desaster zu geben, zeugt von Sturheit oder Lust an der Eskalation. Der Ball liegt eben nicht nur in der Londoner Spielfeldhälfte, auch Brüssel, Paris und Berlin müssen handeln, bereit sein für nochmalige Gespräche mit der britischen Regierung. Reformorientierte Lösungen, auch auf kleinstem gemeinsamen Nenner, sind notwendig." Hessische Niedersächsische Allgemeine
"Nicht überraschend, aber überraschend deutlich hat das britische Unterhaus den Brexit-Deal abgelehnt. Damit geht die politische Hängepartie weiter, und alles scheint auf einen ungeordneten Brexit hinauszulaufen. Dass Unternehmer hierzulande dennoch optimistisch bleiben und auf eine Einigung in letzter Minute hoffen, zeigt die Bedeutung des britischen Marktes für sie. Dennoch sollte spätestens jetzt der Plan B aus der Schublade geholt werden. Denn für die Konsequenzen eines ungeordneten Brexits sollten sie sich wappnen. Zusätzliche Zollabwicklungen, neue Zertifizierungen, ein weiterhin unberechenbarer Wechselkurs, das alles wird das Geschäft von Firmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals treffen." Neue Osnabrücker Zeitung
"Ja, der harte Brexit ist wahrscheinlicher geworden. Aber nein, selbst ein harter Brexit würde keine Katastrophe auslösen. Die Ruhe an den Börsen ist ein Hinweis darauf, dass ein Flächenbrand wie nach der Lehman-Pleite nicht zu erwarten ist. Die konsequente Haltung der EU, die selten gemeinsam Probleme löst, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass das Risiko beherrschbar ist. Die europäischen Handelspartner werden verkraftbare Einbußen hinnehmen müssen. Aber die gröbsten Handelshemmnisse, werden sich durch Verträge schnell verkleinern lassen. Zollschranken werden durch digitalisierte Abfertigung rascher überwunden, auch wenn der formelle Aufwand größer wird. Nur Großbritannien würde ein paar Jahre brauchen, um in die neue Rolle hineinzufinden. Ein Prozess, der durch die Führungskrise im Land noch erschwert würde. Aber eine echte Krise macht Politiker oft einsichtiger. Und das wird uns vermutlich in letzter Minute noch einen Deal bescheren." Magdeburger Volksstimme
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