Ein Riesenrad für die Kühe
Milchviehbetriebe mit 1000 Tieren und mehr kannte man bisher nur in neuen Bundesländern. Jetzt gibt es sie auch in Bayern. In Bad Grönenbach bewirtschaften zwei Familien Bauernhöfe dieser Größenordnung. Wie schaffen sie es? Ein Besuch im Unterallgäu
Hinweis aus aktuellem Anlass: Derzeit berichten mehrere Medien über mögliche Verstöße gegen den Tierschutz auf einem Hof in Bad Grönenbach. Dies ist ein Artikel aus unserem Archiv aus dem Dezember 2011. Unsere aktuelle Berichterstattung lesen Sie hier: Augsburger Tierschützer decken Missstände bei Mega-Milchbauer im Allgäu auf.
Das Gefühl, auf einem Bauernhof zu sein, kommt am ehesten am Esstisch in der warmen Stube auf. In der holzvertäfelten Ecke trifft sich die Familie. Vater Franz Endres hat gerade mal wieder das Handy am Ohr und regelt Geschäfte, seine Frau Thea bringt Cappuccino, Tochter Franziska setzt sich mit ihrem kleinen Sohn Max dazu. Und der strahlt, als sein Onkel Martin ihn auf den Arm nimmt. Dem 21-Jährigen, der sich gerade auf die Meisterprüfung vorbereitet, ist nicht anzumerken, wie viel Verantwortung er schon trägt. Sein Vater hat ihm das Stallmanagement anvertraut – für 1300 Kühe.
Allein diese Zahl macht vielen in der Branche Angst. Milchviehbetriebe dieser Dimension sind in Bayern etwas Neues, in ganz Westdeutschland findet man nur eine Handvoll vergleichbare Unternehmen. Franz Endres und sein Kollege Georg Zeller, der einen Hof derselben Größenordnung bewirtschaftet, haben sich lange überlegt, ob sie überhaupt an die Öffentlichkeit gehen sollen. Sie wissen, dass Staunen und Ablehnung in der Bevölkerung oft nah beieinanderliegen.
Die Biogasanlage fängt das klimaschädliche Methan auf
Aber Neugier wird allein schon beim Vorbeifahren am Weiler Schulerloch in der Gemeinde Bad Grönenbach (Unterallgäu) geweckt. Die gewaltigen, mit Photovoltaik-Modulen bestückten Dächer sind von der Autobahn A7 aus nicht zu übersehen. Vier Riesenställe und mehrere andere Gebäude gehören zu der Landwirtschaft der Familie Endres.
In der Gemütlichkeit des Wohnzimmers sieht man davon nichts. Thea Endres zeigt Fotos von früher, als die Milch von Schulerloch noch in Alukannen auf dem Ladewagen zur Molkerei gefahren wurde. Der Blick nach draußen fällt auf den Rasen im Garten und auf die ebene Landschaft. Viel Grün breitet sich aus, dazwischen einzelne abgeerntete Äcker. Auch Reste von Maisstängeln sind zu sehen: „Ausschließlich Futtermais für die Tiere“, betont Franz Endres auf Nachfrage.
Der 54-Jährige, der an einem Ohrläppchen einen goldenen Stecker in Form einer Kuh trägt, bietet keine Angriffsfläche in der Diskussion um die „Vermaisung“ der Landschaft. Seine Biogasanlage werde fast ausschließlich mit Gülle gefüttert. „Bei einem Betrieb dieser Größenordnung ist das ein absolutes Muss“, sagt Endres. Denn so werde das klimaschädliche Methangas, das sonst in die Atmosphäre entweichen würde, aufgefangen und sinnvoll zur Stromerzeugung genutzt.
Das gilt auch für Georg Zeller (56), der mit seinen Söhnen Martin (27) und Michael (25) in einem abgelegeneren Ortsteil von Bad Grönenbach knapp 1000 Kühe hat. In der Zeller’schen Biogasanlage wird zusätzlich die Gülle von Nachbarn behandelt. Jeder der beiden Großbetriebe versorgt rund 1000 Durchschnittshaushalte mit elektrischer Energie – als Nebeneffekt der Milchproduktion.
Von der vielen Gülle bemerkt man auf dem Betriebsgelände in Schulerloch kaum etwas. Die Exkremente der Tiere verschwinden unter dem Spaltenboden. Die Luft im offenen Außenklimastall ist gut. Alles wirkt großzügig und funktionell. Ländliche Idylle sucht man allerdings vergeblich.
Manches hat Franz Endres in Sachsen abgeschaut, wo er vor Jahren eine frühere landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft übernommen hat. Für die intensive Milchwirtschaft sei aber gerade die Lage von Bad Grönenbach wie geschaffen. Viel Gras für die Kühe wächst hier – fünf bis sechs Mal wird es geschnitten. Aber auch Ackerbau ist noch möglich, um Futterpflanzen anzubauen. Aber nicht alles, was er braucht, kann Endres auf seinen 450 Hektar selbst ernten. Einen Teil kauft er zu: „Von Nebenerwerbslandwirten weiter nördlich, die dadurch auch noch ein Einkommen haben.“
„Wir sind kein Beispiel für Agrarindustrie“
Trotz der gigantischen Ausmaße seines Betriebes fühlt er sich als Bauer: „Wir sind kein Beispiel für Agrarindustrie“, betont er. „Wir sind ein Familienbetrieb in der zehnten Generation – ein Familienbetrieb mit Lohnarbeitskräften.“
Einige dieser Lohnarbeitskräfte kommen aus Polen. Sie arbeiten vier Wochen und fahren dann wieder für zwei Wochen nach Hause. Sechs polnische Mitarbeiter wechseln sich ständig ab, vier sind immer gleichzeitig da. An den Schaltstellen setzt Endres einheimische Mitarbeiter ein. Für das Personal werden gerade neue Wohnungen gebaut, damit auch Familienangehörige bleiben können. Nach dem gleichen System funktioniert Zellers Milchproduktion. Und beide haben das gleiche Problem: „Es ist nicht leicht, qualifizierte Arbeitskräfte zu bekommen“, sagt Martin Zeller, der ältere Sohn, der ursprünglich Steuerberater werden wollte, dann aber doch Agrarwissenschaften studierte.
Polnische Landarbeiter nehmen den Weg nach Bayern auf sich, weil sie zu Hause schwer Arbeit finden. „Dort gibt es kein Hartz IV“, erklärt Endres. Ob einheimische Frauen, die für zehn Euro pro Stunde zum Putzen gehen, auch melken würden, habe er noch nicht probiert, gesteht Endres. Er überlegt sich noch, ob er es versucht.
Womöglich schreckt die Arbeitszeit ab. In Schulerloch dreht sich das Melkkarussell morgens ab 3 Uhr und nachmittags ab 15 Uhr. Die neue Anlage, die erst seit zehn Tagen läuft, sorgt für Aufsehen in der Fachwelt. Besucher können das Schauspiel von einer noch nicht ganz fertiggestellten Empore bestaunen. 80 Kühe – auch das noch einzigartig – fahren unten auf einem Förderband so gemächlich wie in einem Riesenrad im Kreis und werden gleichzeitig gemolken. Vier Mitarbeiter stehen in weißen Gummistiefeln auf einer sauberen Betonfläche und erledigen die Routinehandgriffe: vormelken, desinfizieren, die Zitzenbecher ansetzen. Die Euter fahren wie auf dem Präsentierteller in bequemer Arbeitshöhe vorbei. In einer Stunde werden so zwischen 300 und 400 Kühe gemolken, insgesamt rund 30000 Liter am Tag.
Die Tiere lassen alles in stoischer Ruhe über sich ergehen. Die Fahrt auf dem Band macht ihnen keine Angst. Sie wirken gelangweilt, wie sie da stehen, Körper an Körper, die meisten mit schwarz-weißem Fell, dazwischen einzelne mit braunem. „An ihrem Wiederkäuen sieht man, dass sie sich wohlfühlen“, erklärt der Chef.
Der „Kuhverstand“ und die elektronische Kontrolle
Sein Sohn hat unterdessen einen Helfer angewiesen, kranke Hufe mit einer Art Pflanzenspritze einzusprühen. „Ein Mittel gegen Fußpilz“, sagt Endres. Man brauche einen „Kuhverstand“, um zu erkennen, was mit den Tieren los ist.
Aber auch die Elektronik hilft bei der Kontrolle. Auf einem Bildschirm wird angezeigt, welche Kühe weniger Milch geben als üblich. Denn das könnte ein Hinweis sein, dass sie krank sind oder „rindern“, also paarungsbereit sind. Rot unterlegt leuchtet dann das Wort „Milchmindermenge“ auf. Bei der Kuh Nummer 1042 sind es 1,2 Kilo, bei Nummer 449 sogar 4,5 Kilo weniger als sonst. Martin Endres merkt sich solche Abweichungen zur weiteren Beobachtung vor. Falls sich die Werte nicht normalisieren, werden die betreffenden Kühe am Ende des Karussells ausgesondert, untersucht und wenn nötig behandelt.
Alle anderen gehen zurück in ihre Herde, wo sie sich im Laufstall frei bewegen oder sich auf weichen Liegeflächen niederlassen. Welcher Gruppe sie zugeordnet werden, hängt übrigens von ihrer Milchleistung ab. Denn so kann die Futtermenge und -zusammensetzung ohne besonderen organisatorischen Aufwand auf die Bedürfnisse einer größeren Zahl von Tieren abgestimmt werden. Das sei einer der Vorteile eines großen Tierbestandes, erklären Endres und Zeller.
Rationell und wirtschaftlich zu arbeiten war immer Georg Zellers Grundsatz. Schon 1972, als noch Anbindeställe gebaut wurden, entschied er sich für einen Laufstall, der damals mit 60 Kühen schon sehr groß war. Das sei die Grundlage gewesen, immer weiter zu wachsen – auch ohne staatliche Investitionsförderung. „Erst waren wir dafür zu klein, dann zu groß.“
Die traditionelle Rolle der Bäuerin verändert sich
Bei Franz Endres spielte die familiäre Situation eine große Rolle, als er beschloss, sich vom Ideal des klassischen Familienbetriebs zu lösen. Seine Eltern starben jung. Die Familie mit vier kleinen Kindern war auf fremde Arbeitskräfte angewiesen. Auszubildende hatte Endres ohnehin schon und machte mit ihnen gute Erfahrungen. Seine Frau, Lehrerin von Beruf – wie auch die Frau von Zeller –, hätte nicht die Möglichkeit gehabt, die traditionelle Rolle der Bäuerin auszufüllen und jeden Morgen und jeden Abend zum Melken in den Stall zu gehen.
„Wir wollten mehr Lebensqualität“, sagt Endres. Die Arbeit sollte auf viele Schultern verteilt werden. Zu denken gaben ihm Beobachtungen im Osten: Frühere Angestellte einer LPG brachten es als Ehepaar auf etwa 2000 Euro Rente, während seine Eltern zusammen 450 Euro hatten. „Und sie haben sich kaputt geschafft und sind früh gestorben.“
Eine solche Schufterei wollte er weder seiner Frau noch den Kindern zumuten. Keines von ihnen sollte in die Landwirtschaft gezwungen werden. Aber gefreut hat sich Endres doch, als bei seinem Sohn schon als Kind die „bäuerlichen Gene“ deutlich wurden. Das motivierte ihn, sich zu behaupten. „Ich fühle mich meinen Vorfahren verpflichtet, die im 16. Jahrhundert im Bauernkrieg die Leibeigenschaft abgeschüttelt haben. Ich will freier Bauer auf freier Scholle bleiben. Das ist mein Leitmotiv.“
Ob der Großbetrieb auch in Bayern das Modell der Zukunft ist, lasse sich nicht pauschal beantworten. Aber an den geringen Ausbildungszahlen lasse sich hochrechnen, dass von den jetzt noch 2000 Bauernhöfen im Landkreis Unterallgäu in 30 Jahren noch etwa 450 übrig sein werden, meint er.
Georg Zeller ist es um die Zukunft der Landwirtschaft nicht bange: „Nahrungsmittel und Energie werden immer gebraucht.“
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