Ein Viertel mehr Pflegebedürftige 2030: Pflegenotstand spitzt sich noch zu
Immer mehr Menschen werden Hilfe brauchen. Aber es gibt zu wenige, die die schlecht bezahlte Arbeit machen wollen. Mehr Geld allein wird nicht reichen.
Die Zahlen sprechen eine brutal eindeutige Sprache. In zehn Jahren wird in Deutschland ein Viertel mehr Menschen gepflegt werden müssen als heute. Sind es derzeit 3,7 Millionen, werden es 2030 schon 4,6 Millionen sein. Woher all die Pflegerinnen und Pfleger für sie kommen sollen, weiß niemand in Berlin. Die Lücken sind bereits jetzt groß, die Lage in Heimen und bei Pflegediensten angespannt. Es fehlen 25000 Pflegekräfte.
Doch auf 100 freie Stellen, so rechnet Familienministerin Franziska Giffey (SPD) vor, kommen gerade einmal 27 Bewerber. Die Bundesregierung versucht, des Problems auf verschiedenen Wegen Herr zu werden. Die Löhne sollen steigen, Auszubildende müssen kein Schulgeld mehr zahlen und bekommen jetzt mehr als 1000 Euro im Monat. In Mexiko, dem Kosovo und auf den Philippinen sollen Pflegekräfte angeworben werden.
Viele Pfleger empfinden ihre Arbeit als sehr erfüllend
Trotzdem wird es eine schnelle Verbesserung nicht geben, räumte Giffey am Freitag auf einem Pflegekongress in Berlin ein. Das Defizit bekommen Kranke und Senioren weiter zu spüren. "Die Menschen werden oft nicht so gut versorgt, wie sie versorgt werden müssten", beschrieb Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats, die Wirklichkeit. "Es gibt lange Wartelisten in Pflegeheimen, es gibt Wartelisten bei Pflegediensten." Tausende müssten jetzt einen Beruf ergreifen, der einen schlechten Ruf hat, verbunden mit schwerer Arbeit, Stress jeden Tag, Schichtdienst, Personalknappheit und wenig Gehalt. Tatsächlich empfinden aber viele Pflegerinnen und Pfleger ihre Arbeit als erfüllend und nützlich. Davon wird aber selten gesprochen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) weiß, dass der schlechte Ruf beseitigt werden muss, um mehr junge Leute und Quereinsteiger zu gewinnen. "Dazu zählt eine vernünftige Bezahlung ebenso wie eine moderne technische Ausstattung und ausreichend Personal", sagte er auf dem Kongress.
Eine Fachkraft in der Altenpflege verdient 2750 Euro im Monat
Um höhere Löhne ringt gerade die Gewerkschaft Verdi mit den Arbeitgebern. Sie gibt sich zuversichtlich, dass sich beide Seiten auf einen Tarifvertrag einigen. Die Bundesregierung will ihn dann für allgemein verbindlich erklären. Die Alternative wäre ein höherer Mindeststundenlohn für Pflegeberufe. Er liegt aktuell bei 11,35 Euro im Westen und 10,85 Euro im Osten, richtet sich aber an Hilfskräfte. Laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bekommt eine Fachkraft in der Altenpflege im Schnitt 2750 Euro pro Monat, ein Helfer 2000 Euro.
Doch mehr Geld für die Pfleger könnte die Not noch vergrößern. Denn wenn sie mehr Geld verdienen, müssen Pflegebedürftige einen höheren Eigenanteil aufbringen. Oder aber die Leistungen werden zusammengestrichen, das heißt, es bliebe noch weniger Zeit für die Patienten. Eine deutliche Aufstockung des Personals, wie es alle wollen, hätte den gleichen Effekt.
Im Schnitt liegt die Zuzahlung im Heim bei 864 Euro im Monat
Die Zuzahlung für die Pflege im Heim ist schon heute üppig. Sie kletterte in Bayern 2019 laut dem Institut der deutschen Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr im Schnitt von 733 auf 864 Euro pro Monat. Das ist ein Plus von 18 Prozent. Obendrauf kommen für Heimbewohner Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen. Im Bundesmittel summieren sich die Zahlungen aus eigener Tasche auf durchschnittlich 1900 Euro im Monat.
Die Bundesregierung wird also mehr Geld ins System stecken müssen. Ihr wichtigster Hebel wären höhere Beiträge zur Pflegeversicherung. Die SPD dringt auf eine Obergrenze für die Eigenanteile, damit vielen Rentnern der Gang zum Sozialamt erspart bleibt.
600.000 Menschen arbeiten derzeit im Pflegebereich. Die Schätzungen, wie viel mehr bis 2030 in Heimen und bei den Ambulanten Diensten dazukommen müssen, gehen auseinander. Sie reichen von 100.000 bis 200.000. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, ist skeptisch, ob diese Kraftanstrengung zu meistern ist. "Das Beharrungsvermögen im durch Lobbyisten geprägten Gesundheitswesen ist stark ausgeprägt", meinte er.
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