Einmal Bombe, immer Bombe: Endet die weltweite Abrüstung?
Nach dem wahrscheinlichen Aus für den INF-Vertrag könnte auch der Vertrag zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen auslaufen. Ein Domino-Effekt?
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen sprach Klartext: „Nationen müssen abrüsten oder sie gehen unter“, rief António Guterres den Botschaftern von dutzenden Ländern zu, die sich im Sitzungssaal der Abrüstungskonferenz in Genf versammelt hatten. „Schlüsselkomponenten der Architektur zur internationalen Rüstungskontrolle brechen zusammen“, betonte Guterres Ende Februar und schaute besorgt in die Gesichter der Diplomaten. Guterres warnte zumal vor einem Kollaps ganz bestimmter Verträge: jenen Abkommen, die einen Atomkrieg mit seinen apokalyptischen Folgen verhindern sollen.
Die düsteren Einschätzungen des UN-Generalsekretärs werden auch von unabhängigen Fachleuten geteilt. Erst vor wenigen Tagen erklärte Daryl Kimball, Direktor der Arms Control Association in Washington, dass „der Respekt für Schlüsselnormen der nuklearen Nichtverbreitung sowie internationale Zusagen und Verpflichtungen erodieren“. Tatsächlich verheißen die jüngsten Entwicklungen nichts Gutes. Die beiden mit Abstand größten Nuklearwaffenmächte, die USA und Russland, kündigten den zentralen INF-Vertrag von 1987. Dem INF-Abkommen droht in wenigen Tagen, am 2. August 2019, das Aus. Vor mehr als 30 Jahren einigten sich die USA und die Sowjetunion auf die Übereinkunft: Sie beinhaltet das Verbot bodengestützter Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer), die Atomsprengköpfe tragen. Der INF-Vertrag ist immerhin jenes bilaterale Abkommen, das „das nukleare Wettrüsten des Kalten Krieges beendete“, hält Experte Michael Krepon vom Stimson Center in Washington fest.
Europa wäre ein potenzielles Einsatzgebiet
Heute werfen sich die USA und Russen eine Verletzung der INF-Bestimmungen vor. Sobald die Mächte nicht mehr an den Pakt gebunden sind, könnten sie ihre Arsenale wieder bestücken – und das dicht besiedelte Europa wäre das potenzielle Einsatzgebiet der Massenvernichtungswaffen. Akut gefährdet scheint auch „New Start“. Es handelt sich um den Vertrag zwischen Washington und Moskau über strategische Nuklearwaffen. Das aktuelle Abkommen von 2010 erlaubt den Rivalen jeweils den Besitz von 1550 atomaren Sprengköpfen auf 800 Trägersystemen, etwa Interkontinentalraketen. Die Vereinbarung läuft 2021 aus, sie könnte aber um fünf Jahre verlängert werden. UN-Generalsekretär Guterres beschwört die Verantwortlichen in Moskau und Washington, „New Start“ weiter leben zu lassen. Die „ganze Welt“ profitiere davon, appelliert Guterres. Experte Krepon blickt aber auch auf „New Start“ mit wachsender Sorge. US-Präsident Donald Trump und sein nationaler Sicherheitsberater John Bolton hätten „weder die diplomatischen Fähigkeiten noch offensichtlich ein Interesse an einer Verlängerung“ von „New Start“, unkt Krepon.
US-Sicherheitsberater Bolton selbst äußerte sich wie folgt über eine Verlängerung von „New Start“: „Es gibt keine Entscheidung, aber ich denke, es ist unwahrscheinlich.“ Ein Treffen hochrangiger Emissäre der Präsidenten Trump und Wladimir Putin Mitte dieser Woche in Genf brachte keine Annäherung. Ohne „New Start“ und ohne INF „würden zum ersten Mal seit 1972 keine verpflichtenden Grenzen für die zwei größten nuklearen Supermächte existieren“, warnen Atomwaffenexperten in einem gemeinsamen Aufruf. Weitere Ängste löst der Konflikt der beiden verfeindeten Atomwaffenstaaten Indien und Pakistan aus. Niemand kann garantieren, dass eine kurze konventionelle militärische Konfrontation der Nachbarn, wie sie Ende Februar ausbrach, nicht in einen nuklearen Schlagabtausch eskaliert. Ein anderer Krisenherd in Asien, Nordkorea, lodert ebenfalls. Zwar scheint US-Präsident Trump einen persönlichen Gefallen an dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un gefunden zu haben. Die USA verfügen jedoch über kein schlüssiges diplomatisches Konzept, Kims Atomwaffenprogramm friedlich zu eliminieren. Nachdem Trump das internationale Abkommen von 2015 zur Eindämmung des Teheraner Atomprogramms kündigte, fühlen sich auch die Mullahs nicht mehr daran gebunden. Es ist ein Atomprogramm, das die USA und auch ein anderer Nuklearwaffenstaat, Israel, notfalls militärisch zerschlagen wollen.
Alle diese Bedrohungen dürften eigentlich nicht existieren – wenn denn die internationale Gemeinschaft den mehr als ein halbes Jahrhundert alten Atomwaffensperrvertrag (NPT) einhalten würde. Der NPT „ist weltweit der wichtigste multilateral verhandelte Vertrag über nukleare Rüstungskontrolle“, heißt es in einem Grundsatzpapier des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri. Der Pakt bildet das Fundament des Systems zur Nichtverbreitung der Massenvernichtungswaffen. Der NPT lag erstmals 1968 zur Unterzeichnung offen, er trat 1970 in Kraft. Ihm gehören heute fast alle Staaten an. Nach den Bestimmungen dürfen nur die fünf Mächte China, Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion – also heute Russland – und die USA über Atomwaffen verfügen. Die fünf Staaten verpflichten sich auch zur „vollständigen Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle“. Die übrigen Unterzeichnerstaaten verzichten auf den Erwerb von Atomwaffen, dürfen die Kernenergie friedlich nutzen. Indien, Pakistan und Israel traten dem NPT nie bei. Nordkorea trat 2003 aus.
Die fünf offiziellen Atommächte halten Versprechen nicht ein
Bislang haben die fünf offiziellen Atommächte ihr zentrales Abrüstungsversprechen nicht eingehalten. Somit untergraben die Fünf selbst die Legitimation des Sperrvertrages und schaffen Anreize für andere Staaten, nach Atomwaffen zu greifen. „Alle Staaten mit Nuklearbewaffnung haben weitreichende Modernisierungsprogramme aufgelegt. Sie scheinen den Plan zu hegen, große nukleare Arsenale auf unbegrenzte Zeit zu behalten“, erläutert Abrüstungsfachmann Hans M. Kristensen. Die Nuklearwaffenstaaten seien „in einem immerwährenden technologischen Rennen gefangen“. Aders gesagt: Wer einmal die Bombe hat, will sie nie mehr hergeben. Und er will sicherstellen, dass sie auf dem neuesten Stand ist.
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