"Wir schaffen das": Merkels Triumph und Tragik – in drei Worten
Die Bundeskanzlerin hatte vor fünf Jahren kaum eine Wahl, als „Wir schaffen das“ zu sagen. Aber die Flüchtlingsfrage ist noch lange nicht geschafft – auch wegen Merkels Fehlern.
Angela Merkel ist keine große Rhetorikerin. Präziser formuliert: Merkels rhetorisches Geschick (manche sagen auch: ihre rhetorische Neigung) ist so klein ausgeprägt, dass die Bundeskanzlerin bisweilen stundenlange Reden zu halten vermag, ohne dass beim Zuhörer auch nur ein Wort wirklich hängen bliebe. Daher ist in der an Überraschungen reichen politischen Karriere der Angela Merkel eine Überraschung die vielleicht größte: dass ausgerechnet diese erklärte Nicht-Rednerin mit einer Redewendung in die Geschichtsbücher eingehen wird: „Wir schaffen das.“
Gewiss, viele von Merkels Vorgängern haben Worte hinterlassen, die sie charakterisierten. Willy Brandt wird für immer „mehr Demokratie wagen“, selbst wenn der Satz zunächst kaum auffiel. Helmut Kohl wurde die „blühenden Landschaften“ nie mehr los und auch Gerhard Schröder muss bis heute damit klarkommen, der „Basta“-Kanzler gewesen zu sein.
Angela Merkel geht mit einem Satz in die Geschichtsbücher ein: "Wir schaffen das"
Merkel hat mit ihren drei geflügelt gewordenen Worten ebenfalls rasch gehadert. Schon nach einem Jahr erklärte sie, den Satz in dieser Form nicht mehr verwenden zu wollen, weil er zu einer bloßen Leerstelle geworden sei, auf die jeder Zuhörer ganz nach Belieben seine Sicht der Welt – und natürlich vor allem seine Sicht auf ihre Flüchtlingspolitik – projiziere.
Sie wird ihn freilich nicht mehr los. Und sie kann auch nicht verhindern, dass man ihn ungeheuer aufgeladen hat, obwohl er eigentlich so banal daherkommt. Was hätte die Regierungschefin des stärksten Landes Europas damals eigentlich sonst sagen sollen: Wir schaffen das nicht? Als Barack Obama wenige Jahre zuvor „Yes, we can“ skandiert hatte, hing die Welt an seinen Lippen, und niemand fragte, was wer wann wie genau könne.
Aber Obama hat diesen Aufbruchsgeist – wie fast jeder US-Politiker – so gut wie jeden Tag vorgelebt. Merkel war und ist völlig anders: Ihr klebte stets der Vorwurf an, trotz aller politischen Umfrage- und Wahlerfolge keine echten politischen Leidenschaften zu zeigen. Sie brenne für kein einziges Projekt, hieß es, für keine einzige mutige Reform. Wenn Merkel den Euro stützen, Banken retten, Energiewenden einleiten musste, wirkte es stets, als sei es eben das, was gerade auf ihrem Terminkalender eingetragen sei. Sie hat einmal selber von sich gesagt, mal liberal zu sein, mal konservativ, mal christlich-sozial …
Und nun, urplötzlich: diese Bestimmtheit, diese Bereitschaft, sich in den politischen Kampf zu werfen, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als das Land buchstäblich an seine Grenzen stieß und Deutschland ein „Rendezvous mit der Globalisierung“ (Wolfgang Schäuble) erlebte. Merkel beharrte: „Ich sage wieder und wieder. Wir können das schaffen und wir schaffen das.“ Bald schon legte sie gar nach, fast eingeschnappt, es sei nicht mehr ihr Land, wenn sich Deutsche dafür entschuldigen müssten, in Notsituationen ein freundliches Gesicht zu zeigen.
Merkel thront heute wieder auf dem Umfrage-Thron
Über ihre Motive ist viel gerätselt worden. War es die eigene Erfahrung, sich als Ostdeutsche in ein neues Land eingliedern zu müssen, die sie mit den Geflüchteten verband? Oder doch das Gewissen, als Pastorentochter? Sie hat sich nicht mehr groß dazu erklärt. Klar ist aber, dass sich in diesen drei dürren Worten Triumph und Tragik der Angela Merkel bündeln.
Denn vieles, sehr vieles ist ja geschafft worden. Der Kontrollverlust, von dem die Seehofers und Co. in der damaligen Zeit raunten, er ist nicht eingetreten, ebenso wenig wie die Herrschaft des Unrechts. Mehr Geflohene als oft befürchtet schafften die Integration in den Arbeitsmarkt, Europa ist nicht implodiert. Merkel thront heute wieder auf dem Umfrage-Thron, genau wie ihre Partei, als einzige Volkspartei. Die CDU, sogar die CSU, werden Merkel vermissen.
Nur: Wie geschafft ist das Land? Und welcher Preis wurde gezahlt? Merkel selbst hat ihre „Willkommenskultur“ rasch und diskret erkalten und erhärten lassen, schmutzige Deals mit zweifelhaften Herrschern wie Erdogan geschlossen. Der Heiligenschein, der sie umgab, strahlt bei genauerem Hinsehen nur matt. Und: Ihre absolute Entschlossenheit, auch ihre Weigerung, Fehler zuzugeben, hat das Land gespalten. „Wir schaffen das“ klang vielen, als sehe Merkel nur Chancen der Integration, keine Probleme. Auch deswegen kündigte sie vorzeitig ihre politische Rente an.
Angela Merkel hat „Wir schaffen das“ politisch überlebt
Es ist eine Volte der Geschichte, dass all dies zum fünften Jahrestag des Satzes weit weg erscheint. Das liegt auch an der Corona-Krise, deren Unwucht selbst die Flüchtlingsherausforderungen in den Schatten stellt. Merkel glänzt als Krisenmanagerin, Ex-Kritiker wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder stehen fast bewundernd an ihrer Seite. Die AfD, welche Merkel rechts von der Union so hat erstarken lassen, dass diese nicht nur im Bundestag, sondern in allen Landtagen der Republik sitzt, wirkt im Vergleich wie eine Chaotentruppe.
Und doch: Viele Brüche und Verrohungen der Corona-Zeit sind ohne die Verwundungen der Flüchtlingszeit nicht zu verstehen. Verteilungs- und Kulturkonflikte – zwischen Alt und Jung, zwischen Ost und West, zwischen Neuankömmlingen und Eingesessenen – wurden durch ökonomische Boomjahre abgefedert und könnten im Abschwung ganz neu aufbrechen. Von einer europäischen Migrationslösung bleiben wir weit entfernt.
Angela Merkel hat „Wir schaffen das“ politisch überlebt, das ist ihr Triumph. Doch dass dieser Satz wahr wird, wird sie vielleicht nie erleben, das ist auch ihre Tragik.
Dieser Text ist Teil unserer Themenwoche "5 Jahre Flüchtlingskrise - Wir schaffen das". Alle Artikel finden Sie hier.
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Prima dass Frau Merkel schon ein Jahr nach einem Terroranschlag den Unglücksort besucht hat und dort Mitgefühl zeigte.
https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Spaetes-Zeichen-Merkel-zeigt-Terroropfern-Mitgefuehl-id43590521.html
>> "Mir ist wichtig, dass ich heute noch einmal deutlich mache, wie sehr wir mit den Angehörigen und mit den Verletzten fühlen, wie sehr wir auch Dinge verbessern wollen", sagt Angela Merkel am Montag, bevor sie Angehörige der Opfer im Kanzleramt empfängt - fast genau ein Jahr, nachdem der Attentäter Anis Amri am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche raste. <<
Was ist das im Vergleich zu Kanzler Schröder, der auf dem Deich Herzen und Wahl gewann?
„Wir schaffen das“.
Dieser Satz war und ist richtig. Man kann sich hinter dem fundamental menschlichen Anliegen mit herausragenden Leistungen auszeichnen.
Oder aber ihn als heuchelnde Deckung benutzen, hinter der gut Ding Weile hat.
Im Klartext: Neben dieser Ankündigung hat politische Substanz zu stehen, eine aufzubauende Organisation usw. .
Frau Merkel hat nach ihrem Satz sich aus politischer Verantwortung verabschiedet. Sie hat nicht einmal ansatzweise zur Verwirklichung dieses Satzes beigetragen. Und damit erstens hilfreiche Bürger allein gelassen und zweitens Verfassungsfeinden die Möglichkeit geboten, in das von ihr zu verantwortende chaotische Vakuum einzudringen.
Wenn man dann noch an die Entstehung des DublinIII-Vertrages denkt, wird das fundamentale Scheitern ihres menschlichen Spruches zum Absurdum.
Frau Merkel hatte recht: Wir haben uns geschafft.
Man müsste zunächst einmal klären wer "wir" ist und was "geschafft" werden soll.
Ein angemessener Kommentar, lieber Gregor Peter Schmitz. Er fasst die Ereignisse 2015 und die Folgen in unserem Land gut zusammen. Die Rolle von Angela Merkel wird so kritisch und gleichzeitig abgewogen beschrieben, wie es für den Chefredakteur einer großen Tageszeitung angemessen ist. Es sind nicht Ihre Zeilen, die bei mir eine Mischung aus Enttäuschung und Wut hervorrufen. Es ist das Gefühl, vor fünf Jahren als Demokrat in tiefster Weise verletzt worden zu sein. Es ist das Gefühl, bei richtungsweisenden Entscheidungen für Deutschland und Europa mit Floskeln und durchgestochenen Anordnungen abgespeist worden zu sein. Bestimmte Phrasen und Wörter lassen bei mir immer noch unbändige Wut hochsteigen: "Wir schaffen das" (so fordern gnadenlose Chefs Überstunden ein), "Einzelfälle" (Politikerstatements bei brutalen und tödlichen Übergriffen auf Frauen durch Zugewanderte, "Herausforderung" wenn Gerichte, Polizei, Ämter und Angestellte vollkommen überlastet werden.
Es gab 2015 keine Flüchtlingspolitik. Politik ist für mich die geduldige und nervenaufreibende Abstimmung von BürgerInneninteressen, sowohl innerhalb unseres Landes als auch mit unseren europäischen Partnern. In einer nie dagewesenen Allparteienkoalition wurden diese Prozesse 2015 außer Kraft gesetzt. Ich persönlich habe mich von diesem Schock nie erholt. Ich bin weder braun noch Coronaleugner und doch kann ich Menschen verstehen, die einfach unbändig enttäuscht und misstrauisch sind.
Eines steht allerdings fest, der Grund für ihre aufgeführten Probleme sind keinesfalls Flüchtlinge.
Was hätten sie denn gemacht, nachdem die Flüchtlinge hier waren? Oder hätten sie die Flüchtlinge gar an der Grenze stehen lassen mit all den brutalen Folgen für diese Menschen?
Deutschland hatte keine Alternative.
Folgendes vom Chefredakteur ist doch interessant:
"Denn vieles, sehr vieles ist ja geschafft worden. Der Kontrollverlust, von dem die Seehofers und Co. in der damaligen Zeit raunten, er ist nicht eingetreten, ebenso wenig wie die Herrschaft des Unrechts. Mehr Geflohene als oft befürchtet schafften die Integration in den Arbeitsmarkt, Europa ist nicht implodiert."
So schlimm wie sie es darstellen kann es also doch nicht sein. Unter Umständen hat ihr Schock, von dem sie sich nicht erholt haben womöglich ganz andere Gründe. Brennende Flüchtlingsheime, Hass und Hetze gegen Flüchtlinge, Ausländerfeindlichkeit und das auch heute noch, lassen nicht zu, dass wir es gut schaffen.
Natürlich wurden auch große Fehler gemacht, nachdem der große Flüchtlingsstrom über Deutschland gekommen ist. Ausgerechnet viele hilfsbereite Bürger haben die Fehler so mancher Politiker ausgebügelt und darauf kann Deutschland stolz sein.
Ich habe mich gefreut mit Menschen aus verschiedenen Richtungen der Erde zu reden. Erst dann ist zu bemerken, dass es Menschen sind wie wir, mit Nöten und Sorgen wie wir auch. Aber auch mit psychisch schwer belasteten Menschen, die dringend Hilfe brauchen.
Wir haben es geschafft, wir hätten es aber auch besser schaffen können.
Bei schwierigen Themen, die emotionalen Stress erzeugen, gerät man meist in die Polarisierungsfalle und vertritt konsequent eine bestimmte Sichtweise. Hier stehen sich mehrere Pole gegenüber, bspw. "wir mussten den Flüchtlingen doch helfen" versus "hier wurden essentielle Richtlinien der Grenzziehung und europäischen Asylregelung sträflich missachtet mit verheerenden Auswirkungen auf den sozialen Frieden in unserem Land". Man kann sich für eine der Positionen entscheiden, mit etwas Abstand stellt man vielleicht fest, dass beide zutreffen.
Herr Richard M. bitte lesen Sie mehr als das was die deutsche Presse berichtet. Es sind immer noch Millionen von Flüchtlingen, die an der Grenze stehen und warten auf die Öffnung, ob in der Türkei oder Libyen oder oder. Und keiner will mehr helfen, weder Merkel noch Seehofer. Wir haben jetzt eine Alternative- wegschauen. Frau Merkel hat für die Industrie billige Arbeitskraft beschafft und als es sich herausstellte, dass diese Menschen kaum geeignet sind, hat sie sofort ihren Kurs abgebrochen und Seehofer arbeiten lassen, als Grenzpolizist und Ordnungshüter.