Europäischer Innenkommissar drängt auf große Asylreform
Exklusiv Dimitris Avramopoulos spricht über Europas Flüchtlingspolitik und erklärt, warum er nach der Europawahl auf eine umfassende Reform hofft.
Es gibt keinen Durchbruch für ein europäisches Asylsystem. Die im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge müssen noch zwischen den Mitgliedstaaten hin und her geschickt werden. Sind Sie enttäuscht oder wütend, dass in dieser Legislaturperiode nichts vorangekommen ist?
Avramopoulos: Wir sollten immer das Gesamtbild betrachten, wenn wir über Migration sprechen. Während meiner Zeit als Kommissar haben wir bei der Asyl- und Migrationssteuerung größere Fortschritte gemacht als in den 20 Jahren zuvor. Dies ist natürlich eine Folge der Flüchtlingskrise: Europa musste handeln, und wir haben gemeinsam gehandelt. Die Zahl der irregulären Ankünfte ist auf dem niedrigsten Stand seit fünf Jahren. Dies ist das Ergebnis unserer harten und gemeinsamen Arbeit. Gleichzeitig haben wir eine beispiellose Solidarität der EU mit den Ländern, die unter Druck stehen, zum Beispiel mit dem Umsiedlungsmechanismus und durch eine massive Aufstockung der Unterstützung für Flüchtlinge in Drittländern, nicht nur finanziell, sondern auch durch die Wiederansiedlung Tausender schutzbedürftiger Personen in Europa.
Aber vieles blieb unerledigt…
Avramopoulos: Sie haben Recht, es muss noch mehr getan werden. Die Mitgliedstaaten haben in einer Reihe von Kernpunkten nicht genügend politischen Mut und europäischen Geist bewiesen, insbesondere bei der Asylreform, an der wir sehr hart gearbeitet haben. Die Europawahlen sollten die Gelegenheit bieten, diesen Diskussionen einen neuen Impuls zu verleihen. Das Ringen um die Anlande-Erlaubnis für die „Alan Kurdi“ letzte Woche hat im Übrigen erneut gezeigt, wie dringend wir vorhersehbare Regeln für solche Fälle brauchen. In diesem Fall haben Deutschland sowie Frankreich, Portugal und Luxemburg wiederholt europäische Solidarität gezeigt und Malta hat seinen Hafen geöffnet. Dafür möchte ich mich bei diesen Ländern ausdrücklich bedanken. Es kann nicht sein, dass Menschen tage- und wochenlang auf See ausharren müssen, weil unsere Mitgliedstaaten sich nicht auf eine Verteilung einigen können.
Die Mitgliedstaaten fordern seit Monaten einen besseren Schutz der Außengrenzen. Die Kommission hat vorgeschlagen, Frontex auf 10.000 Mann aufzurüsten. Jetzt haben die Mitgliedstaaten dies um Jahre verschoben. Kann Europa auf diese Weise wirklich einen gemeinsamen Weg finden?
Avramopoulos: Letzte Woche haben wir eine historische Einigung erzielt, um die Befugnisse und Instrumente der Europäischen Grenz- und Küstenschutzagentur in einer beispiellosen Art und Weise zu stärken. Ich denke, das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es bei der Verwaltung unserer Außengrenzen einen gemeinsamen Weg und einen gemeinsamen politischen Willen gibt. Das stehende Korps von 10.000 Mann wird schrittweise aufgebaut, um bis 2027 sein volles Potenzial auszuschöpfen. Das bedeutet nicht, dass es bis dahin nicht eingesetzt wird, im Gegenteil. Tatsächlich wird es die Mitgliedstaaten bei den ersten Einsätzen bereits ab 2021 unterstützen. Dies ist also keineswegs eine Verschiebung - es handelt sich um eine stetige und schrittweise Operationalisierung.
Der italienische Innenminister behauptet, dass der Rückgang der Zahl der Flüchtlinge im Mittelmeer auch auf seine harte Isolations- und Abschreckungspolitik mit geschlossenen Häfen zurückzuführen ist. Teilen Sie diese Ansicht?
Avramopoulos: Bei der EU-Migrationspolitik geht es nicht um Abschreckung, sondern um den Schutz für Hilfsbedürftige, wobei irreguläre Ströme durch kontrollierte und legale Migration ersetzt werden sollen. Der deutliche Rückgang der illegalen Einwanderung nach Italien ist das direkte Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen der EU, auch mit Italien und anderen Mitgliedstaaten, die bereits im Sommer 2017 begonnen wurden.
Worauf ist der Rückgang der Flüchtlingszahlen dann zurückzuführen?
Avramopoulos: Drei Maßnahmen waren meiner Meinung nach von wesentlicher Bedeutung. Erstens die Unterstützung für die libysche Küstenwache, die es ihr ermöglicht hat, die Verantwortung für die Suche und Rettung von Menschen in der Nähe der libyschen Küsten zu übernehmen. Zweitens war die Unterstützung, die wir Niger und anderen afrikanischen Herkunfts- und Transitländern gewährt haben, von entscheidender Bedeutung, um die illegalen Abwanderungen zu verringern und die Schleusernetze zu bekämpfen. Ein dritter Faktor war unsere humanitäre Hilfe in Libyen zusammen mit der Afrikanischen Union und internationalen Organisationen. Damit konnten bereits über 43.000 Migranten bei der Rückkehr aus Libyen in ihre Heimatländer unterstützt und mehr als 3000 besonders Schutzbedürftige evakuiert werden. Die Lehre, die wir aus all diesen Bemühungen ziehen, ist, dass wir nur gemeinsam durch gemeinsame Aktionen in der Lage waren, die Migration besser zu steuern und irreguläre Ströme zu reduzieren.
Bleiben Sie bei der Idee der flexiblen Solidarität, mit der sich EU-Regierungen, die keine Menschen aufnehmen wollen, auf andere Weise engagieren oder sich sogar einen Ausweg kaufen können?
Avramopoulos: Für mich hat Solidarität in allen Sprachen die gleiche Bedeutung. Wir können es auf unterschiedliche Weise umsetzen, um der Sensibilität jedes einzelnen Mitgliedstaates Rechnung zu tragen, aber unser Ziel war und ist es immer, ein System einzuführen, das für alle gerecht ist und das wirklich Verantwortung und Solidarität zwischen allen Mitgliedstaaten teilt. Das Wesentliche ist folgendes: Wir brauchen ein zukunftssicheres Asylsystem, das unerwartete Zuwanderungsströme so bewältigen kann, dass kein einziger Mitgliedstaat allein oder unverhältnismäßig stark betroffen ist. Dies war das zentrale Ziel der Dublin-Reform. Leider haben die Diskussionen bisher nicht zu einer Einigung geführt, aber wie ich Ihnen bereits gesagt habe, erwarte ich, dass die Europawahlen eine neue Dynamik erzeugen.
Hat sich das zu Beginn sehr umstrittene türkische Modell am Ende bewährt?
Avramopoulos: Schauen Sie sich die Ergebnisse an - die kontinuierlichen und konsistenten Ergebnisse, drei Jahre später. Ja, die EU-Türkei-Erklärung hat sich bewährt. Jetzt kommt es darauf an, ihre Wirksamkeit für die Zukunft zu sichern.
Wie lange wird es dauern, bis die EU eine Einigung über ein neues Asylsystem erzielt hat?
Avramopoulos: Dies wird von den Ergebnissen der Europawahlen abhängen. Aber mehr als auf den Zeitpunkt kommt es darauf an, welche Art von Vereinbarung wir erzielen können. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis unsere derzeitiges EU-Asylrecht fertig verhandelt und umgesetzt war. Die Flüchtlingskrise, die uns 2015 überrascht hat, zwang uns, in weniger als einem Jahr eine Reform unseres gesamten Asylsystems vorzuschlagen. Alle Elemente sind miteinander verbunden: nicht nur, ob jemand Anspruch auf Asyl hat, sondern auch die Aufnahme- und Verfahrensbedingungen. Wenn wir den Prozess der Erlangung von Schutz für diejenigen, die ihn wirklich brauchen, erleichtern wollen, aber wirksamer gegen Missbrauch und illegale Sekundärmigration vorgehen wollen, brauchen wir ein wirklich harmonisiertes System. Bei vielen dieser Elemente wurden in den Verhandlungen bereits große Fortschritte erzielt.
Während Ihrer Amtszeit als EU-Innenkommissar kam es zu den Angriffen auf Paris, London, Berlin und Brüssel. Was hat die Gemeinschaft daraus gelernt?
Avramopoulos: Als die ersten Anschläge im Jahr 2015 stattfanden, war die innere Sicherheit eine ausschließlich nationale Angelegenheit. Es gab sehr wenig Vertrauen und Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten. Seitdem hat es einen echten Paradigmenwechsel gegeben. Die Mitgliedstaaten bleiben zwar weiter in erster Linie für die innere Sicherheit verantwortlich aber sie haben erkannt, dass die Sicherheit eines Mitgliedstaates die Sicherheit der gesamten EU ist. In vier Jahren haben wir enorme Fortschritte auf dem Weg zu einer echten und wirksamen Sicherheitsunion erzielt. Insgesamt ist die EU widerstandsfähiger geworden. Um Terroristen effektiver zu bekämpfen, haben wir schärfere Maßnahmen gegen Schusswaffen, Sprengstoffe und Terrorismusfinanzierung beschlossen. Wir haben die operative Unterstützung und die EU-Mittel für den Schutz öffentlicher Räume, den Schutz vor chemischen und biologischen Bedrohungen aufgestockt und die Luftsicherheit verbessert. Wir haben auch unsere EU-Agenturen, insbesondere Europol, verstärkt. Sie dienen als EU-weite Knoten- und Informationszentren, die die Arbeit der Mitgliedstaaten unterstützen. Die Anschläge der letzten Jahre waren ein Weckruf, wir arbeiten heute nicht mehr in nationalen Silos, wenn es um Sicherheit geht - und das ist eine wichtige Verbesserung.
Müssen die Mitgliedstaaten weiterhin mit der Angst vor Angriffen leben? Oder ist die Gefahr in der Zwischenzeit geringer geworden?
Avramopoulos: Die Zahl der Angriffe ist zurückgegangen, und dank der guten Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsdiensten unserer Mitgliedstaaten konnten auch viele Angriffe verhindert werden. Allerdings kann niemand versprechen, dass es keine weiteren Angriffe mehr geben wird. Wir müssen sowohl realistisch als auch belastbar sein. Wir müssen auch immer einen Schritt voraus sein, da sich Art und Umfang der potenziellen Angriffe ändern - insbesondere bei Einzelpersonen. Der Terrorismus kann von allen Seiten kommen, auch von der extremen Rechten, wie der jüngste bösartige Angriff in Christchurch gezeigt hat. Wir müssen alle Formen von Terrorismus und gewalttätigem Extremismus mit gleicher Intensität bekämpfen. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaften hängt davon ab.
Möchten Sie diese schwierige Aufgabe, die Sie bisher trotz vieler Rückschläge hatten, fortsetzen?
Avramopoulos: Ich wäre nicht in der Politik, wenn ich mich zurücklehnen und entspannen wollte. Ich bleibe ein Optimist, weil ich an den Kampf für das Gemeinwohl unserer Gesellschaften glaube. Und dem Gemeinwohl zu dienen ist eine Berufung, die man nie beiseitelegen kann. So wie Talleyrand einst sagte: Ich stelle mich weiterhin zur Verfügung für die Verantwortung.
Zur Person Dimitris Avramopoulos (65) gehört den griechischen Christdemokraten der Neo Dimokratia an. Nach dem Jura-Studium unter anderem in Brüssel war er zunächst als Diplomat und später ab 2004 in diversen Ministerämtern (Tourismus, Außenamt, Verteidigung) tätig, ehe er 2015 nach Brüssel wechselte, wo er in der Juncker-Kommission die Ressorts Migration, Inneres und Bürgerschaft übernahm. Der verheiratete Vater von zwei Kindern lebt in Athen.
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