Ex-Präsident des Bundesgerichtshofes kritisiert Verfassungsrichter scharf
Günter Hirsch war Richter am Europäischen Gerichtshof. Warum er das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über Rettungsprogramme der EZB für problematisch hält.
Herr Hirsch, das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, die Europäische Zentralbank habe mit ihrem teuren Rettungsprogramm für klamme Euro-Länder ihr Mandat überschritten. Der Europäische Gerichtshof behauptet das Gegenteil. Wer hat denn nun das letzte Wort in Europa?
Günter Hirsch: Dieser Streit ist noch nicht entschieden. Rein dogmatisch betrachtet hat Karlsruhe im Ansatz seine Entscheidung auf gesichertem Boden getroffen. Die Brücke, über die europäisches Recht in die deutsche Rechtsordnung einwandert, hat eine begrenzte Statik. Die entscheidende Frage aber ist die: Wer kontrolliert, ob eine Maßnahme der EU außerhalb der Kompetenzen liegt, die die Mitgliedsstaaten ihr übertragen haben?
Muss diese letzte Instanz nicht zwangsläufig der Europäische Gerichtshof sein?
Hirsch: Bleiben wir bei dem Bild mit der Brücke. Steht das Brückenhäuschen auf der europäischen Seite, dann sitzt darin der EuGH und entscheidet, welche Unionsakte er über die Brücke in die Mitgliedsländer schickt. Oder steht das Brückenhäuschen auf der deutschen Seite und das Bundesverfassungsgericht kontrolliert? Nach dieser Logik hätten wir am Ende 26 nationale Brückenhäuschen.
Jurist Günter Hirsch: "Karlsruher Entscheidung ist gefährlich für Europa"
Wie kann der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB in Deutschland in Teilen verfassungswidrig sein, wenn der Europäische Gerichtshof ihn zuvor schon abgesegnet hat?
Hirsch: Da kommen wir zur Ultra-vires-Theorie, das bedeutet wörtlich „jenseits der Ermächtigung“ und meint, dass eine Institution wie in diesem Fall der EuGH ihre Kompetenzen überschritten hat. Im konkreten Fall hat der Gerichtshof das Anleiheprogramm für europarechtskonform erklärt, auch wenn er in der Begründung etwas an der Oberfläche geblieben ist. Anschließend ging der Fall zurück ans Bundesverfassungsgericht, das von der Luxemburger Entscheidung erkennbar enttäuscht war und die Karte „ultra vires“ gezogen hat.
Bahnt sich da ein größerer Konflikt an? Die Kritik aus Karlsruhe am EuGH war ja massiv, im Ton wie in der Sache: objektiv willkürlich, methodisch nicht vertretbar.
Hirsch: Wir reden hier von zwei Partnergerichten, deren Richter sich regelmäßig treffen und immer Wert auf Kooperation und Austausch gelegt haben. Im Hintergrund aber schlummerte stets die Frage, wer eigentlich das letzte Wort hat. Ich frage mich, ob unser Verfassungsgericht überhaupt noch die uneingeschränkte Rechtsprechungshoheit über einen Bereich wie den der EZB und des EuGH hat, und denke da eher vom Ergebnis her: Die Europäische Union ist zwar kein Staat, sondern ein Staatenverbund, und die Herren der Verträge sind die Mitgliedsstaaten. Aber es kann nicht sein, dass jedes nationale Verfassungsgericht europäisches Recht blockieren kann, indem es mit der Ultra-vires-Logik argumentiert und sagt, Europa habe seine Kompetenzen überschritten. Europa ist eine Rechtsgemeinschaft.
Und wie finden Karlsruhe und Luxemburg wieder zu einem partnerschaftlichen Miteinander zurück?
Hirsch: Die Frage, wer das letzte Wort hat, ist der Gordische Knoten in Europa. Karlsruhe sagt: Wir sind die Herren der Verträge, wir entscheiden als Letzte. Europa sagt, wir brauchen die Einheit der Rechtsordnung, am Ende muss ein europäisches Gericht entscheiden. Jetzt ist die Bombe geplatzt – dabei ist in den europäischen Verträgen explizit festgelegt, dass der Europäische Gerichtshof prüfen muss, ob ein Rechtsakt noch von einer ausreichenden Ermächtigung durch die Mitgliedsstaaten gedeckt ist. Das heißt: Deutschland hat durch die Ratifikation der Verträge diese Kompetenz ausdrücklich dem EuGH zugewiesen. Wir müssen also einen neuen dogmatischen Ansatz diskutieren. Nur zu sagen, vertragt euch wieder, ist zu wenig. Dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem Vertragsverletzungsverfahren droht, zeigt ja, wie gefährlich die Karlsruher Entscheidung für Europa ist. Eine Entscheidung mit „ultra vires“ zu begründen, fällt einem guten Juristen nicht so schwer, aber Verfassungsrichter müssen die politischen Folgen ihrer Entscheidung mit bedenken.
Streit zwischen EZB und Bundesverfassungsgericht ein "Damoklasschwert"
Gerade erst hat die EZB ihr Hilfsprogramm für den Kampf gegen die Corona-Krise noch einmal um 600 Milliarden Euro ausgeweitet. Bahnt sich da schon der nächste Krach an?
Hirsch: Karlsruhe hat ausdrücklich betont, dass die EZB-Entscheidung die Sondersituation durch die Pandemie nicht betrifft. Aber ich vermute, dass auch dieses Programm angegriffen werden wird – und dann muss das Verfassungsgericht neu entscheiden.
Hat Karlsruhe die Büchse der Pandora geöffnet? Polen, Ungarn und andere Mitgliedsländer könnten jetzt in Versuchung kommen, den Europäischen Gerichtshof als Gericht zu betrachten, dessen Urteile allenfalls empfehlenden Charakter haben.
Hirsch: Das ist meine große Befürchtung. Was das Bundesverfassungsgericht entscheidet, wird auch in den anderen Mitgliedsstaaten aufmerksam verfolgt. Wenn es jetzt einen Weg weist, wie man sich argumentativ über eine Entscheidung des EuGH hinwegsetzen kann, werden das natürlich andere Länder, die rechtsstaatlich nicht so gefestigt sind, dankbar aufgreifen. Karlsruhe hat diesen Regierungen ein Werkzeug in die Hände gegeben, um den EuGH auszuhebeln.
Sie waren selbst Richter am Europäischen Gerichtshof. Welche Folgen hat das Karlsruher Urteil denn ganz praktisch. Darf die Bundesbank noch Staatsleihen aufkaufen‘?
Hirsch: Nehmen wir mal an, die EZB sagt: Für uns ist nur maßgebend, was der EuGH sagt, und außerdem begründen wir laufend die Verhältnismäßigkeit unserer Programme. In diesem Fall dürfte sich die Bundesbank ab August nicht mehr an den Programmen der EZB beteiligen. Gleichzeitig aber ist sie nach europäischem Recht verpflichtet, daran mitzuwirken. Wenn diese Diskrepanz nicht schnellstens bereinigt wird, kommen wir in Teufels Küche. Ich hoffe, dass die EZB über ihren Schatten springt und eine Art Sondererklärung für ihr Aufkaufprogramm nachschiebt, um Karlsruhe Genüge zu tun. Und dann muss man sehen, dass man die Grundsatzfrage löst. Es kann nicht sein, dass ständig das Damoklesschwert einer in die Brüche gehenden Rechtseinheit über der EU schwebt. Die EU ist kein Staat, sie hat keine Polizei, sie hat kein Militär. Sie existiert alleine durch das Recht. Und wer die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft gefährdet, gefährdet ihre Existenz.
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Die Diskussion ist geschlossen.
Und wenn der Deutsche abstimmen dürfte über einen Austritt aus der EU, dann würde es keine EU mehr geben !!!
Darum mit aller Macht verhindern.
Die EU ist ein Flickwerk ohne Ende.
Das wird sich auch in 10 Jahren noch nicht geändert haben ???
Oder doch ?? Wenn Deutschland - Italien-Griechenland- Niveau hat und selbst Hilfsbedürftig ist ???