Darum fühlen sich Juden an Jom Kippur so verwundbar
Jom Kippur ist das heiligste jüdische Fest. Im Zentrum steht der Frieden mit Gott und sich selbst. Warum aber gerade dieser Tag mit gemischten Gefühlen behaftet ist.
Er ist der wichtigste jüdische Feiertag überhaupt: Der Jom Kippur markiert den Höhepunkt der „großen Herbstfeiertage“, die zehn Tage andauern. Ein Fest, das eigentlich für Versöhnung steht – den Frieden mit Gott, sich selbst und seinen Mitmenschen. Und doch wird gerade dieser schicksalsschwere Tag von vielen Juden mit gemischten Gefühlen betrachtet. Denn 1973 brachte ein Angriff das moderne Israel erstmals an den Rand einer Niederlage und löste damit ein nationales Trauma aus.
Es ist ein Tag im Jahr, an dem ein ganzes Land zum Stillstand kommt. 25 Stunden wird in Israel gefastet, die Läden schließen, es fahren keine Autos und es fliegen keine Flugzeuge. Von einem Abend bis zum nächsten begehen Juden zu Deutsch den „Tag der Versöhnung“. Woher das Fest genau stamme, wisse man nicht. „Es gibt kein spezielles Datum oder Ereignis in der jüdischen Geschichte, das als Ursprung des Festes gilt“, sagte Dr. Henry Georg Brandt, der ehemalige Gemeinde-Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg, im Gespräch mit unserer Redaktion vor einigen Jahren. Belege gebe es bereits in der Bibel. Experten streiten sich darüber, von wann diese Texte genau stammen. Sicher jedoch ist: Der jüdische Festtag ist älter als 3000 Jahre. Jom Kippur hat es also bereits in der frühjüdischen Zeit gegeben. „Vor allem in Jerusalem, als die großen Tempel dort noch standen, fanden zu dieser Zeit große Zeremonien statt“, so Brandt.
Israel erlebte an Jom Kippur ein Trauma
Heute verbringen die meisten Gläubigen den Tag der Versöhnung in der Synagoge und beten – teils alleine, teils gemeinsam. „Bei Jom Kippur soll jeder versuchen, sich mit seinen Mitmenschen und mit Gott zu versöhnen“, sagt Brandt. „Im Laufe der Jahrhunderte habe sich eine sehr reichhaltige, einzigartige Liturgie entwickelt“, sagt Brandt. Insgesamt sei Jom Kippur ein eher ruhiger Festtag - „ohne große Dramatik“. Jeder gehe in sich und betrachte sich und seine Lebensweise kritisch. Aus diesem Grund habe der Feiertag auch so eine wichtige Bedeutung im Judentum. Denn er berührt den Einzelnen wesentlich mehr als anderen Feste.
Vor 46 Jahren erlebte Israel an eben jenem Tag sein nationales Trauma. Die ägyptisch-syrische Offensive griff das Land völlig überraschend am Feiertag an – an einem Tag, an dem das Leben still stand. Der Angriff traf Israel wie ein Erdbeben. 240 Flugzeuge überquerten am 6. Oktober 1973 den Suezkanal und bombardierten die Sinai-Halbinsel, die die israelischen Streitkräfte im Sechstage-Krieg besetzt hatten.
Das Sicherheitsgefühl war dahin
Gleichzeitig schossen 2000 ägyptische Geschütze 53 Minuten einen Kugelhagel auf die Israelis an der Westseite des Kanals nieder. Zeitgleich startete die syrische Armee auf den Golan-Höhen einen Angriff. Die Israelis hatten die Kraft unterschätzt und waren eiskalt ausgeliefert. 177 israelische Panzer mussten es auf den Golan-Höhen mit 930 syrischen aufnehmen.
Die Angriffe an gleich zwei Fronten erschütterten das Land schwer. 2700 israelische Soldaten verloren bis zum Waffenstillstand am 25. Oktober ihr Leben, das lang gehegte Sicherheitsgefühl war dahin. Besonders groß war die Entrüstung, dass all dies am heiligsten Tag geschah. Bis heute wird der Tag als nationales Trauma des modernen Israels betrachtet. Zwar konnte Ägypten den Sinai nicht erobern. Doch durch die Verhandlungen sollte es dem Land sechs Jahr später gelingen. (gst)
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