Ist Kapitänin Rackete eine Heldin oder eine Halunkin?
Die Festnahme der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete spaltet die Italiener: In Verona wird sie gefeiert, auf Lampedusa übelst beleidigt.
Die Reaktionen auf die Festnahme der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete sind gemischt in Italien. Die Szenen, die sich bei ihrer Festnahme auf Lampedusa abspielten, beschäftigten die italienischen Medien.
In einem Video, das Davide Faraone, Parlamentarier der sozialdemokratischen Partito Democratico auf Twitter veröffentlichte, ist zu hören, wie Schaulustige Rackete bei ihrer Festnahme im Hafen beschimpfen. „Ich hoffe, diese Neger vergewaltigen dich“, rief ein Mann. Andere bezeichneten die 32-jährige Niedersächsin als „Zigeunerin“. Eine Männergruppe skandierte daraufhin den Sprechchor „Italiener zuerst!“.
Rackete bekommt auch Zuspruch. In Verona hängten Unbekannte im Zentrum ein Spruchband mit der Aufschrift „#free Carola“ auf, etwa 100 Menschen demonstrierten am Samstagabend für Rackete. In Italien erklärten Aktivisten, Journalisten und Schriftsteller wie Roberto Saviano („Gomorrha“) ihre Solidarität mit der Kapitänin. In mehreren Spendenaufrufen, darunter auch von den deutschen Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf, wurde für Sea-Watch und Rackete gesammelt.
Rackete: Hatte Angst vor Selbstmorden auf hoher See
In einem Interview begründete die Kapitänin ihre Entscheidung, trotz des Verbots in den Hafen von Lampedusa einzufahren. Es habe an Bord unter den Migranten bereits „Akte der Selbstverstümmelung“ gegeben. „Ich befürchtete, dass es zu Selbstmorden gekommen wäre“, sagte Rackete, einige Migranten haben sich ins Wasser stürzen wollen.
Die Sea-Watch 3 war aufgefordert worden, die am 12. Juni vor Libyen an Bord genommenen Migranten wieder in den nordafrikanischen Staat zurückzubringen. Rackete weigerte sich und wies auf die katastrophalen humanitären Bedingungen in dem Land hin.
Kapitänin entschuldigt sich für Rammen von Polizeiboot
Bei dem Anlegemanöver in der Nacht von Freitag auf Samstag in Lampedusa hatte die Sea-Watch 3 offenbar ein Patrouillenboot der italienischen Finanzpolizei gerammt. Rackete gab diesen Zwischenfall zu, entschuldigte sich für ihren „Fehler“ und sagte, sie hätte nicht die Absicht gehabt, „irgendjemanden in Gefahr zu bringen“.
Die Staatsanwaltschaft Agrigent hatte das waghalsige Manöver der Kapitänin zum Anlass für ihre Festnahme genommen, und nicht etwa einen bisher ins Spiel gebrachten Straftatbestand wie „Beihilfe zur illegalen Immigration“. Stattdessen muss sich Rackete nun wegen „Widerstand und Gewalt gegen ein Kriegsschiff“ verantworten, ihr drohen zwischen drei und zehn Jahre Haft.
Steinmeier kritisiert Italien
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte die italienischen Behörden wegen der Festnahme der deutschen „Sea Watch“-Kapitänin Carola Rackete. Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe. „Nur: Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht“, sagte Steinmeier im Sommerinterview des Senders.
Der Bundespräsident forderte in dem Gespräch, das am Sonntag um 19.10 Uhr ausgestrahlt werden sollte, laut ZDF eine europäische Antwort auf den Zustrom von Flüchtlingen über das Mittelmeer. Sollte sich die Situation in Nordafrika nicht beruhigen, werde dieser weitergehen. „Da muss mehr geschehen, da muss Europa eine kräftigere Rolle spielen.“
Deutschlands SPD-Außenminister Heiko Maas erklärte: „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären.“ Menschenleben zu retten, sei eine humanitäre Verpflichtung.
Die Diskussion ist geschlossen.
Sea-Watch 3 musste aus humanitären Gründen anlegen und dies sollte wohl verhindert werden. Daraus einen Tatbestand zu zaubern scheint schon sehr waghalsig zu sein. Letztlich geht es darum, das Massensterben im Mittelmeer und in Nordafrika zu beenden. Die EU ist gefordert schnell und wirksam zu reagieren. Schein-Straftaten zu forcieren wird wohl das Gegenteil bewirken.
Wenn jemand eine Straftat begeht, wie „Widerstand und Gewalt gegen ein Kriegsschiff“ , ist es mit einer Entschuldigung und einem: “Ich wollte keinem schaden“ nicht getan. Wenn so ein Tatbestand verwirklicht ist, sind solche Entschuldigungen allenfalls strafmildernd. Sie wird also dann wohl zumindest die Mindeststrafe erhalten und gegebenenfalls absitzen, soweit sie nicht amnestiert wird oder wegen guter Führung früher frei kommt.
Die Wahrheit ist konkret, so die Worte des "Stückeschreibers" - und freilich auch Verfassers prächtiger Gedichte - Bertolt Brecht. Und konkret ist auch das, was etwa in der gedruckten Ausgabe dieser Zeitung unter "Capitana contra Capitano" zu lesen war:
"Am Morgen des 12. Juni rettete die "Sea Watch 3" 53 Menschen in einem seeuntauglichen Schlauchboot im Mittelmeer vor der libyschen Küste."
Hätte es eine noch konkretere Beschreibung der Vorgänge geben können? Wohl kaum, denn wer käme schon auf den Gedanken, es könnte sich bei den 53 Menschen um deutsche Touristen gehandelt haben? Oder um solche, die jene biblische Passage nicht zu kennen scheinen, nach der der Teufel Jesus auf die Zinne des Tempels stellt und ihn aufffordert, sich hinabzustürzen (Mt 4, 1 ff).
Was nun die Frage bezüglich der Kapitänin des rettenden Schiffes - "... eine Heldin oder eine Halunkin?" - betrifft, so dürfte der Verfasser des Artikels sehr wohl den Grund bzw. die Gründe für das Stellen dieser Frage kennen.
Mich jedenfalls erinnert diese Frage an jene, die Alexander Kissler am 13. Oktober 2015 unter der Schlagzeile "Kardinal Marx lobt den Gesetzesbruch" stellte:
"Kardinal Marx findet es gut, daß Merkel sich in der Flüchtlingspolitik über das Gesetz hinweggesetzt hat. Aber darf die Kirche das überhaupt: einen festgestellten Rechtsbruch zu loben?"
Ich antworte darauf mit dem Sprichwort - auch wenn dieses nicht ganz passen sollte: "Schuster, bleib bei deinem Leisten!" Und der Seenotretter dabei, jene zu retten, die in Seenot geraten. Und --- so weiter. Eine humantäre Verpflichtung jedenfalls ist es keineswegs, allen anderen die eigenen Pläne davon, wie Welt auszusehen habe, aufzuzwingen und - koste es, was es wolle, durchzusetzen.
Es ist ehrenwert, Menschen zu retten und abwegig, Menschenretterinnen als Halunken zu bezeichnen.
Ich fand es übrigens auch verdienstvoll, wenn zu DDR-Zeiten sogenannte Fluchthelfer Menschen geholfen haben, in Westdeutschland eine bessere Zukunft zu suchen. Fluchthelfer waren für mich normalerweise keine Verbrecher; sondern Helfer. Auch, wenn sie damit Geld verdient haben.
Frau Rackete und ihre MitarbeiterInnen machen sich verdient um Menschen.
Raimund Kamm