
"Dschungel" von Calais als Schande Frankreichs


Im Flüchtlingslager von Calais sitzen die Migranten fest. Jetzt soll der "Flüchtlings-Slum"geräumt werden. Es gibt zwei Optionen, wo die Flüchtlinge hingebracht werden können.
Die Frage des Reporters klingt ungläubig: „Sie leben in erbärmlichsten Verhältnissen in diesem Slum – und wollen nicht weg?“ Die Flüchtlinge nicken heftig. Lieber würde er sterben, als das Lager am Rande der nordfranzösischen Hafenstadt – das alle nur „Dschungel“ nennen – zu verlassen, sagt ein Mann. Denn er sieht es als Sprungbrett, um endlich an sein Ziel zu gelangen: Großbritannien, auf der anderen Seite des Ärmelkanals. „Was soll ich in Frankreich?“ Wie er sind Tausende, die überwiegend aus dem Sudan, Eritrea, dem Irak und Afghanistan kommen, auf dem Weg ins Vereinigte Königreich in Calais gestrandet.
Doch gestern hat die französische Justiz die geplante Räumung eines Teils des Flüchtlingslagers gebilligt. Das Verwaltungsgericht der nordfranzösischen Stadt Lille erklärte ein Dekret der zuständigen Präfektur am Donnerstag für rechtmäßig, wie aus Verwaltungskreisen verlautete. Damit können die Behörden wie geplant den südlichen Teil des wilden Lagers am Ärmelkanal räumen. Wann dies geschieht, ist jedoch völlig unklar. Paris will Flüchtlingslager auflösen
So sieht es im "Dschungel" von Calais aus
Seit 2015 die Polizei-Präsenz massiv verstärkt wurde und hohe Zäune den Hafen und den Ärmelkanal-Tunnel abschirmen, wird es immer schwieriger, die Insel zu erreichen. Weil sie es monatelang versuchen, richteten sich viele mehr oder weniger im „Dschungel“ ein – so prekär die Verhältnisse dort auch sind: Zelte und Baracken stehen im Schlamm zwischen Müllbergen. Es mangelt an Toiletten und Duschen. Wenn Essen, Decken oder Kleidung verteilt werden, dann durch Ehrenamtliche wie François Guennoc von der Organisation „Auberge des Migrants“, der es „nicht mehr mit ansehen will, wie Menschen in meiner Stadt hungern und frieren“.
Denn dieser bedrückende Slum befindet sich in einem der reichsten Länder der Welt, das sich gerne auf seine Tradition als Geburtsstätte der Menschenrechte bezieht. Nur dass es damit nicht weit her ist – vor allem, wenn diese Menschen Flüchtlinge sind. In Calais hausen sie seit Jahren im Freien und nicht erst seit sich Europa der „Flüchtlingskrise“ bewusst geworden ist. Ziel der angeordneten Teilräumung ist, die Zahl der Flüchtlinge nicht dauerhaft über 2000 ansteigen zu lassen.
Wo werden die Flüchtlinge von Calais untergebracht?
Die Flüchtlinge sollen entweder in rund 100 Aufnahmezentren in ganz Frankreich aufgeteilt werden, wo sie einen Asylantrag stellen können, oder in beheizte Container neben der Zeltstadt umziehen.
Allerdings gibt es dort keine Kochgelegenheiten und der Eintritt funktioniert über einen Handabdruck, was viele Flüchtlinge ablehnen. Sie wollen nicht in Frankreich bleiben, wo die (Schwarz-)Arbeitsmöglichkeiten als schlechter gelten als in Großbritannien. Dort herrscht geringere Arbeitslosigkeit, keine Ausweispflicht. Außerdem sprechen viele der Flüchtlinge Englisch und haben bereits Freunde oder Verwandte auf der Insel. Nicht zuletzt wirkt der Empfang in Frankreich abschreckend. Hilfsorganisationen beklagen, dass im Fall einer Räumung von einigen Teilen des „Dschungels“ für rund 3500 Betroffene nur ein paar hundert Plätze zur Verfügung stehen.
Belgien hat auf die drohende Teilräumung mit der Wiedereinführung der Kontrollen an den küstennahen Grenzübergängen zu Frankreich reagiert. Begründung des Innenministers Jan Jambon: Die Hafenstadt Zeebrügge dürfe „nicht das neue Calais werden“. Schließlich habe Frankreich nach den Terroranschlägen von Paris im November ähnlich gehandelt. Eine Provokation, auf die der französische Innenminister gestern scharf reagierte. Der sonst so beherrschte Bernard Cazeneuve beklagte, nicht vorab über die Entscheidung informiert worden zu sein. „Es ging der französischen Regierung nie darum, Bulldozer in die Heide zu schicken, um die Flüchtlinge ohne jede Begleitung zu zerstreuen“, sagte der Minister. Gegenteilige Behauptungen seien „Lügen und Manipulation“. Paris wolle die Schwächsten schützen, prüfe jedes einzelne Schicksal und gehe so human wie möglich vor.
Premier Manuel Valls lehnt EU-Kontingente ab
Das allerdings bezweifeln Kritiker. Schließlich demonstriert die sozialistische Regierung Härte gegenüber Flüchtlingen. Sie steht unter Druck aufgrund der Wirtschaftskrise, einer Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent und des rechtsextremen Front National, der lautstark gegen Flüchtlinge hetzt. So nahm Premier Manuel Valls auch in Kauf, die deutschen Partner vor den Kopf zu stoßen: Er hatte die von Kanzlerin Angela Merkel geforderten EU-Kontingente auf der Münchner Sicherheitskonferenz kurzerhand abgelehnt. Frankreich würde keinesfalls mehr als die 30000 Asylbewerber in zwei Jahren aufnehmen, die es 2015 zugesagt hat. Aber auch diese Verpflichtung wird nur schleppend erfüllt: Bis Ende Januar kamen über das europäische Umverteilungskontingent gerade 62 Flüchtlinge.
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