Ärzte prangern Gewalt gegen Kinder an
Jedes Jahr werden in Deutschland tausende Kinder schwer misshandelt oder sexuell missbraucht. Pro Woche gibt es mehr als einen Todesfall. Mediziner fordern einen besseren Schutz.
Die Zahlen sind erschreckend und ein Skandal für die deutsche Gesellschaft: Vergangenes Jahr starben 62 Kinder durch Prügel, Misshandlung oder Vernachlässigung. Im Schnitt werden elf Kinder am Tag so stark körperlich misshandelt, dass die Polizei eingeschaltet wird – die Kriminalstatistik zählt exakt 3.929 Fälle im vergangenen Jahr. Und mindestens 40 Kinder pro Tag wurden in dieser Zeit laut dem Bundeskriminalamt Opfer von sexueller Gewalt – exakt 13.928 Fälle.
Gewalt gegen Kinder: Hohe Dunkelziffer wird vermutet
Die tatsächliche Zahl dürfte aber noch viel höher liegen: „Wir müssen davon ausgehen, dass viele Taten unentdeckt bleiben“, sagte BKA- Präsident Holger Münch, als er die Kriminalstatistik vorstellte. Kinderschutz-Experten gehen davon aus, dass sich hinter jedem polizeilich erfassten Fall fünf weitere Gewaltopfer verbergen.
Auch Mediziner halten die Dunkelziffer für hoch. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hat das Thema Gewalt gegen Kinder jetzt in den Mittelpunkt seiner Tagung in Berlin gerückt und stellt weitreichende Forderungen an die Politik. „Tote Kinder sind die äußerste Katastrophe“, betont Verbandspräsident Thomas Fischbach. „Die meisten Todesopfer sind nicht einmal sechs Jahre alt geworden“, sagt der Mediziner.
Tragisch seien die körperliche Misshandlungen immer. Kinder litten oft ein Leben lang darunter, viele würden zerbrechen, betont Fischbach. Die meisten würden Opfer im familiären Umfeld, durch Eltern oder deren Lebenspartner. Bei den Ursachen, so die Mediziner, stechen vor allem Armut, Überforderung, das jugendliche Alter der Eltern und überwiegend männliches Affektverhalten, teils unter Alkohol, hervor. Nachdenklich stimmt Experten auch die hohe Zahl von 68 fahrlässigen Tötungen im letzten Jahr: In diesen Fällen haben die Beschuldigten eindeutig ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Dazu zählen auch Fälle, bei denen die medizinische Versorgung von Kindern vernachlässigt wurde.
Kinderschützer fordern mehr Transparenz
Verbandspräsident Fischbach sagt, Kinderärzte müssten ihre Sensibilität für Zeichen von Misshandlungen stärken und bräuchten bei Behörden zentrale Ansprechpartner. Zwar seien die Mediziner in klaren Fällen bereits von ihrer Schweigepflicht entbunden. In unklaren Fällen dürften sie mit dem Jugendamt aber nur anonymisiert über das weitere Vorgehen beraten. Informationen vom Jugendamt bekämen die Ärzte ihrerseits zu wenig.
Der Kinderärzte-Verband fordert zudem die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz und einen Kinderbeauftragten des Bundestages. Das vor 16 Jahren gesetzlich verankerte Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und das vor fünf Jahren beschlossene Kinderschutzgesetz wirkten nicht ausreichend. Die Gewalt gegen Kinder in Deutschland sei nach wie vor „ein ungelöster Skandal“.
Kinderschützer fordern vor allem mehr Transparenz und mehr konkrete Forschung. „In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderen Staaten keine Pflicht, Hilfefälle zu analysieren“, kritisiert etwa die Deutsche Kinderhilfe. Diese Daten fehlten Politik und Behörden, um den Kinderschutz zu verbessern. (mit dpa, afp)
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