Neue Beweise, neues Verfahren? Gesetz soll alte Mordfälle aufrollen
Mordfälle sollen künftig auch nach einem Freispruch neu vor Gericht verhandelt werden können, wenn neue Beweise auftauchen. Kritiker sehen eine wichtige Säule des Rechtsstaats gefährdet.
Die damals 17-jährige Schülerin Frederike von Möhlmann kommt im November 1981 nach dem abendlichen Musikunterricht nicht zuhause an. Sie wird vergewaltigt, mit vielen Messerstichen getötet, später in einem Waldstück gefunden. Ein Verdächtiger wird freigesprochen, weil man ihm die Tat nicht sicher nachweisen konnte. 2012 deutet eine damals noch nicht mögliche Analyse von DNA-Spuren darauf hin: Er war es womöglich doch. Ihr Vater kämpft noch fast 40 Jahre später für ein neues Verfahren. Doch das war bislang rechtlich nicht möglich.
Denn einmal freigesprochen, kann ein Angeklagter normalerweise nicht ein zweites Mal im selben Fall angeklagt werden. Das gilt auch, wenn neue Beweise auftauchen, die die Person schwer belasten, sogar vermeintlich überführen. Die Fraktionen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD wollen das mit einem Gesetz ändern.
"Ne bis in idem" - lateinisch für "nicht zweimal in derselben Sache" - lautet ein Prinzip, das schon das römische Recht kannte und sich heute noch im Grundgesetz wiederfindet. Der Gedanke des sogenannten Doppelbestrafungsverbots: Nach einem rechtsstaatlichen, rechtskräftigen Urteil soll Rechtsfriede einkehren - das schließt die Wiederaufnahme eines Verfahrens eigentlich aus. Das Vertrauen in die Rechtsprechung soll dadurch gestärkt werden, auf das Wort des Richters müsse Verlass sein.
Anwalt des Vaters eines getöteten Mädchens begrüßt Gesetzesentwurf
Entlasten neue Beweise einen Verurteilten, ist es schon jetzt möglich, ein neues Verfahren zu seinen Gunsten einzuleiten. Doch für das Gegenteil - ein Verfahren zu Ungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen - gibt es nur wenige, strenge Ausnahmen: Grob zusammengefasst kann ein Fall aktuell zu Ungunsten eines Freigesprochenen neu verhandelt werden, wenn das erste Verfahren rechtsstaatlich grob mangelhaft war oder er die Tat später gesteht. Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" soll nun auch denjenigen Liste der Wiederaufnahmegründe um einen Punkt erweitern: das Auftauchen neuer Beweise.
Die Autoren des Gesetzesentwurfs argumentieren, derzeit sei ein neues Verfahren selbst dann nicht möglich, wenn nach langer Zeit ein Video der Tat oder DNA-Spuren auftauchten, die zum Zeitpunkt des Freispruchs technisch noch gar nicht untersucht werden konnten. In solchen Fällen am Freispruch festzuhalten, führe zu "unerträglichen Ergebnissen", heißt es in dem Entwurf.
Frederike von Möhlmanns Vater hatte das Vorhaben mit einer Petition im Internet angestoßen, die bereits mehr als 180.000 Menschen unterzeichnet haben. Der Anwalt des Mannes spricht sich in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundestag deutlich für die Änderung aus. Der Mord sei unverjährbar, führt er an. Das signalisiere, dass die Strafverfolgung niemals aufgebe, das schwerste aller Delikte zu ahnden. Mehrere vom Bundestag zurate gezogene Rechtswissenschaftler stützen das Vorhaben und halten es für mit dem Grundgesetz vereinbar. Besonders spreche dafür, dass die Ausnahme nur für schwerste Straftaten wie Mord gelte.
Kritiker halten das Gesetz für verfassungswidrig
Kritiker dagegen fürchten, dass es nicht bei der Änderung bleiben könnte. Beweise könnten sich im Prozess als weniger verlässlich erweisen, als sie davor erscheinen. Für den Deutschen Anwaltverein gehört es zum "Kern rechtsstaatlicher deutscher Prozesstradition, Rechtsprechung und Verständnis des Satzes ‚ne bis in idem‘", dass neue Beweismittel keine Wiederaufnahme eines Verfahrens begründen. "Nur selten war ein Verstoß gegen das Grundgesetz so klar wie hier", meinte gar der Bürgerrechtler und Richter Ulf Buermeyer bei der entsprechenden Ausschusssitzung im Bundestag.
Der Gesetzesentwurf ist eines von vielen Gesetzen, das unter hohem zeitlichem Druck vom Bundestag beschlossen werden soll. Die Abgeordneten tagen aktuell wegen des nahenden Endes der Legislaturperiode Tag und Nacht. Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" steht am frühen Freitagmorgen um fünf Uhr zur Abstimmung.
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