Gesine Schwan: "Das Grundgesetz ist mit uns gewachsen"
Deutschland feiert den 70. Geburtstag seiner Verfassung. Für Gesine Schwan ist das Schriftwerk ein Glücksfall der Geschichte.
Frau Schwan, das Grundgesetz wird heute 70 Jahre alt. Ein Verfassungskonvent hatte 1948 einen Entwurf erarbeitet, der Parlamentarische Rat ihn im Mai 1949 vollendet. Es trat am 23. Mai 1949 in Kraft. Gedacht war es als Provisorium. Hat es sich bewährt?
Gesine Schwan: Das Grundgesetz ist sehr sorgfältig und bedacht ausgearbeitet und hat sich deshalb sehr gut bewährt. Bis heute ist das Grundgesetz eine starke Autorität – das ist nicht selbstverständlich. Wir können glücklich sein: Unser Grundgesetz ist eine Basis, auf die sich die Gesellschaft berufen kann.
War es richtig, im Zuge der Deutschen Einheit am Grundgesetz festzuhalten und sich keine neue Verfassung zu geben?
Schwan: Die verantwortlichen Regierungspolitiker hatten damals die Sorge, dass eine neue Verfassungskommission zu viele bewährte Regelungen des Grundgesetzes zu Unrecht wieder infrage stellen würde. Andererseits hätte es wahrscheinlich zum inneren Frieden und zur Identifikation mit dem Grundgesetz beigetragen, wenn auch die „beigetretenen“ Ostdeutschen zur Verfassungsgrundlage etwas zu sagen gehabt hätten. Rechtlich ist bei uns etwa kein Plebiszit über die Verfassung vorgesehen, sondern eine Entscheidung des Parlaments. Vielleicht wäre es aber ein guter Kompromiss gewesen, einen rechtlichen Weg dafür zu finden, dass alle Deutschen noch einmal nach der Vereinigung über das Grundgesetz, wie es nach den Überlegungen der Verfassungskommission festgelegt worden ist, abzustimmen. Da hätte sich gewiss eine große Mehrheit gefunden.
Ist das Grundgesetz denn noch aktuell genug, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen – die Welt ist doch heute eine andere als vor sieben Jahrzehnten?
Schwan: Das Grundgesetz ist immer wieder novelliert worden, es ist mit uns gewachsen. Nehmen Sie das Ehe- und Familienrecht. Das Grundgesetz ist also nicht auf dem Stand von 1949. Andererseits spricht es für eine besondere Qualität, wenn das Grundgesetz sich über so viele Jahrzehnte halten kann. Denn eine Verfassung ist nicht einfach ein Gesetz, sondern eine Grundlage, die in sehr vielen verschiedenen Situationen aussagekräftig sein muss. Das Grundgesetz ist wie ein guter Wein: Er wird mit dem Alter nicht schlechter.
Tatsächlich wurde das Grundgesetz in den vergangenen Jahren mehr als 60 Mal geändert – ist das ein Zeichen für seine Lebendigkeit oder ist es eine Dauerbaustelle?
Schwan: Das Grundgesetz ist eine lebendige Dauerbaustelle. Es zeugt für mich von Lebendigkeit, wenn Menschen sagen, das Grundgesetz ist uns so viel wert, dass wir es anpassen, wenn sich das gesellschaftliche Koordinatensystem verschiebt – ohne dabei jeden Tag eine neue Idee zu haben. Das heißt nicht, dass es nicht etwa im Verhältnis zu Europa immer wieder Dinge gibt, über die man neu nachdenken muss. Das Grundgesetz enthält den Auftrag, dass wir ein konstruktiver Teil der Europäischen Union sein sollen. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder darauf geachtet, dass nationale Belange nicht außer Acht geraten. Dieses Austarieren ist wichtig. Auch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundgesetz zu einer die deutsche Gesellschaft vereinigenden Institution geworden.
Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter der Verfassung. Wird die Institution inzwischen zu häufig Gestalter von Politik?
Schwan: Das Bundesverfassungsgericht soll seinem Auftrag nach sehr zurückhaltend sein. Aber wenn das Gericht doch bei manchen Themen stärker gestalterisch eingreift, dann liegt das meiner Meinung nach daran, dass Politikerinnen und Politiker es sich zu einfach machen wollen und bei schwierigen Fragen die Verantwortung dem Bundesverfassungsgericht zuschieben. Fragen, die die Beliebtheit bei den Wählern beeinträchtigen könnten, werden gerne nach Karlsruhe weitergereicht.
Die Deutschen haben eine sehr emotionale Beziehung zu ihrem Grundgesetz, manche bezeichnen es gar als „weltliche Staatsreligion“.
Schwan: Seit der französischen Revolution gibt es die Frage, ob ein Gemeinwesen eine Art religiöser Legitimation braucht. Damals wurde der Bezug der Herrscher auf Gottes Gnadentum beendet. Es ging damals also darum, die Autorität des Staates durch Religion zu stärken. Auch viele Verfassungen beginnen mit einem Gottesanruf. Die Frage ist, ob wir eine Art Zivil-Religion bräuchten, um das Gebot, dieser Verfassung zu gehorchen, so strikt wirksam zu machen, wie das sonst nur Religion bewirken könnte. Funktional erfüllt das Grundgesetz diesen Anspruch, es ist eine „transzendente“ Instanz geworden, die von den Menschen anerkannt wird. Das ist besonders in einer Zeit, in der kaum noch etwas der Attacke und der Polemik entzogen wird, sehr bemerkenswert.
Aber kann so ein nüchternes Schriftstück wie ein Grundgesetz wirklich eine Gesellschaft zusammenhalten?
Schwan: Das kann es nur, wenn die Prinzipien, die in diesem Grundgesetz zu Papier gebracht worden sind, die Zustimmung breiter Teile der Gesellschaft auf sich vereinen können. Und deshalb ist es auch keine Selbstverständlichkeit, dass das Grundgesetz so anerkannt ist. Dahinter steht die Erfahrung, dass der deutsche Staat eine gelungene historische Errungenschaft ist. Das schließt nicht aus, dass es Kritik an einzelnen Punkten gibt - die übe ich auch. Aber die Anlage dieses deutschen Staates mit seinen Grundrechten, den Ewigkeitsklauseln und den Anpassungen an gesellschaftliche Veränderungen ist gelungen. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Dass sich dann eine Art Aura bildet – in der Religionsphilosophie würde man von einem Mythos sprechen –, eine alle verpflichtende und vereinende normative Vorgabe, ist dann gegeben, wenn dieses Gemeinwesen als gelungen gilt.
Kann man also aus dem Grundgesetz eine deutsche Leitkultur ablesen?
Schwan: Von einer deutschen Leitkultur würde ich nicht sprechen – aber von einer demokratischen Leitkultur. Die sehe ich allemal und die ist auch notwendig. Politische Institutionen kommen ohne eine solche Leitkultur, die das Verhaltens- und Normengefüge der Menschen regelt, nicht aus. Schon Artikel 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ist hier eine ganz starke Aussage. Etwas Besseres kann ich mir da gar nicht wünschen.
Trotzdem verlieren viele Menschen das Vertrauen in die Politik und in die Institutionen. Hat die Demokratie ein Akzeptanzproblem?
Schwan: Es ist ganz offensichtlich, dass dies geschieht – und zwar weltweit. Die Aufgabe der Politik ist es, nach den Gründen und Ursachen zu fragen. All diese rechtsextremen Angriffe auf Demokratien, auf die Menschenwürde, auf Minderheiten fallen ja nicht vom Himmel. Sie sind das Ergebnis einer sozialen und ökonomischen Entwicklung, in der die demokratische Regulierung über weite Strecken versagt hat. Stattdessen hat eine turbokapitalistische Logik, eine geradezu manische Wettbewerbsorientierung in allen Lebensbereichen eingesetzt. Das hat Menschen nicht nur rein materiell an den Rand geschleudert, sondern auch psychisch ungemein verunsichert. Denn in so einer Situation können nur wenige gewinnen – der Rest sind Verlierer. Und eine Gesellschaft von Verlierern wird eine verängstigte Gesellschaft, die nach einer Rückversicherung sucht. Das bestärkt den Rechtsautoritarismus.
Wie lässt sich dem entgegenwirken?
Schwan: Die Gesellschaft muss sich wieder sicher fühlen. Dazu braucht es Zugehörigkeitsgefühl, materielle Mindestsicherung, Anerkennung. Die Frage ist, ob wir einfach das Rad zurückdrehen können. Oder müssen wir diese Demokratie weiterentwickeln, damit sie wieder mehr Anerkennung findet? Ich plädiere dafür, dass Bürgerinnen und Bürger mehr Mitspracherechte erhalten und ausüben, vor allem in Entwicklungsbeiräten auf kommunaler Ebene. Menschen könnten sich so wieder als wirksame Mitglieder der Gesellschaft erfahren, sie müssten sich sehr konkret mit Problemen und gegensätzlichen Interessen in ihrer Kommune auseinandersetzen. Ich glaube, dass wir auf diese Weise die Legitimation der Demokratie steigern könnten.
Kann uns denn das Grundgesetz, so wie es ist, nicht ausreichend vor Demokratiefeinden schützen?
Schwan: Ein Gesetz alleine kann nicht schützen. Es ist nur wirksam, wenn die Bürgerinnen und Bürger es auch inhaltlich unterstützen. Man hat der Weimarer Republik oft angekreidet, dass sie eine Republik ohne Demokraten war. Das darf man aber nicht der Republik ankreiden, sondern den undemokratischen Bürgern. Heutzutage haben wir auch wieder Antidemokraten, die den Staat bedrohen – aber wir haben eben auch erfahrene und überzeugte Demokraten, die den Staat schützen. Ohne sie ist eine Demokratie nicht zu sichern.
Was ist die größte Leistung der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes?
Schwan: Ich finde es sehr gut, dass sie versucht haben, im Wirtschaftssystem nichts festzuschreiben. Die FDP möchte ja am liebsten den Artikel 15 streichen: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Offenbar soll das ihre Machtbasis verbreitern. Doch das ist ein durchschaubarer Trick.
Gibt es einen Artikel im Grundgesetz, der Ihnen besonders am Herzen liegt?
Schwan: Das ist Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich weiß, er ist juristisch nur schwer zu fassen, weil der Begriff „Würde“ zu weich ist Würde ist ja eher eine philosophisch-theologische Kategorie. Aber der israelische Philosoph Avischai Margalit beschreibt sehr gut, welche Komponenten in der Würde des Menschen stecken: das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung, das Grundrecht, anerkannt und nicht gedemütigt zu werden – und umgekehrt auch niemand anderen demütigen zu dürfen. Diese Grundidee ist für mich der wichtigste Punkt des Grundgesetzes.
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