Medizinjournalist erklärt, warum in deutschen Kliniken zu viel operiert wird
Zu viele Operationen, fragwürdige Vorsorge: Unser Gesundheitssystem heilt nicht nur, sondern macht auch krank. Medizinjournalist und Arzt Werner Bartens klagt an.
Herr Dr. Bartens, haben Sie noch Ihre Mandeln im Rachen?
Werner Bartens: Nein, meine Mandeln wurden mir vor der Einschulung herausoperiert, weil ich als Kind keine Tabletten schlucken konnte. Obwohl ich sonst keine Probleme hatte und nicht häufig unter Halsschmerzen litt. Als Mediziner weiß ich heute, dass das völlig unnötig war. Die Mandeln haben eine wichtige Funktion fürs Abwehrsystem. Die Wahrscheinlichkeit für Atemwegserkrankungen, Infektionen und allergisches Asthma steigt, wenn die Mandeln entfernt werden. Obwohl die Leitlinien längst geändert wurden, werden die Operationen bis heute viel zu häufig durchgeführt, absurderweise in manchen Landkreisen Deutschlands vier- bis fünfmal so häufig wie in anderen.
Was ist der Grund, dass man schon bei Kindern voreilig zum Skalpell greift?
Bartens: Viele Ärzte und Kliniken handeln aus falscher Gewohnheit, überkommenen Ritualen und operieren wegen finanzieller Fehlanreize zu häufig. Gaumenmandeln sollten erst dann operiert werden, wenn man mehr als sechsmal im Jahr an bakteriellen Halsentzündungen erkrankt, die tatsächlich mit Antibiotika behandelt werden müssen. Aber das ist schon das nächste Problem: Kindern wie Erwachsenen werden viel zu schnell Antibiotika verschrieben.
Viele Ärzte fürchten, dass die Mandelentzündung sonst aufs Herz geht…
Bartens: Auch dieses Dogma ist längst überholt. Besonders absurd ist es, dass Antibiotika noch immer sehr häufig bei viralen Infekten verschrieben werden, obwohl jeder Medizinstudent weiß, dass die Mittel nicht gegen Viren helfen, sondern nur gegen bakterielle Infektionen. Selbst wenn zum grippalen Infekt noch eine bakterielle Infektion hinzukommt, klingen sie laut Studien nicht besser oder schneller ab, wenn man zu Antibiotika greift. Unnötige Antibiotika führen nicht nur zu Nebenwirkungen, sondern auch zu gefährlichen Resistenzen. Diese wichtigen Medikamente wirken dann nicht mehr, wenn man sie wirklich braucht. Zu viel Antibiotika und Mandeloperationen sind nur zwei Beispiele von vielen, wie weit verbreitete Therapien nicht nützen, sondern Patienten schaden.
In der Gesundheitspolitik zählt man dieses Phänomen zur "Überversorgung". In einer Überflussgesellschaft klingt das vielleicht nicht bedrohlich. Aber ist das gesund?
Bartens: Überversorgung ist extrem ungesund. Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen warnt seit Langem davor, dass die Überversorgung eine der größten Gefahren der Medizin für Patienten in wohlhabenden Ländern ist. Zum einen droht konkreter körperlicher Schaden, wenn man unnötig operiert wird, unnötig Medikamente nimmt oder Röntgen- und Strahlenbelastung ausgesetzt wird. Doch genauso wenig sollte man eine andere Gefahr vernachlässigen: Überversorgung führt zu einer flächendeckenden Krankrederei. Wenn Diagnosemethoden immer besser und genauer werden, entdeckt man viel leichter Abweichungen von der Norm. Dann heißt es: Na ja, wir haben da was gefunden. Ist nicht schlimm, aber wir müssen es kontrollieren. Damit wird ein Mechanismus in Gang gesetzt, der uns alle nur noch gesund auf Probe sein lässt. Der alte Mediziner-Witz: Es gibt keine gesunden Menschen, sie sind nur nicht gründlich genug untersucht, ist heute keine Ironie mehr, sondern gefährliche Realität.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Bartens: Vor einigen Jahren machten Wissenschaftler in der Schweiz für eine Studie ein interessantes Experiment: Sie legten Radiologen und Orthopäden hunderte Röntgenbilder und CT-Aufnahmen vor, ohne ihnen zu sagen, dass sie von gesunden Studenten stammten, die über keinerlei Rückenbeschwerden klagten: Doch die Mediziner stellten anhand der Bilder in mehr als einem Drittel der Fälle die Diagnose, dass man wegen sichtbarer Anomalien dringend operieren müsse. Sie waren sich sicher, dass die Betroffenen starke Schmerzmittel nehmen. Das waren keine schlechten Ärzte, aber was man auf den Röntgenbildern sieht, entspricht häufig überhaupt nicht dem, wie sich die Menschen fühlen. Es gibt einen Unterschied zwischen Befinden und Befunden.
Gilt dies auch umgekehrt: Dass erst der Befund krank macht?
Bartens: Wenn mir der Arzt sagt, ich habe da was, ändert sich auch mein Befinden. Man kauft sich neue Matratzen, rennt zur Physiotherapie und lässt sich, wenn es ganz schlimm läuft, operieren. Für die meisten akuten Rückenschmerzen gilt aber, was der bekannte deutsche Orthopädie-Professor Peer Eysel sagt: "Mit Behandlung 14 Tage – ohne zwei Wochen." Das ist in unzähligen Studien belegt. In 90 Prozent der Fälle verschwinden Rückenschmerzen von allein. Natürlich gibt es auch schwere Erkrankungen. Aber viel häufiger spielen psychische Faktoren eine Hauptrolle bei Rückenschmerzen. Das ist kein ominöses seelisches Rätsel. Zwischen Ängsten und schlechter Stimmung auf der einen Seite und Schmerzen oder auch Krankheiten wie beispielsweise Herzinfarkten auf der anderen, gibt es klare neurobiologische Zusammenhänge. Das Schmerzzentrum ist eng mit jener Hirnregion verknüpft, die Wohlbefinden oder Missstimmung registriert.
Wird in Deutschland grundsätzlich zu viel operiert?
Bartens: Deutschland ist zum Beispiel Weltmeister bei Herzkatheter-Eingriffen, beim Einsetzen künstlicher Hüft- und Kniegelenke, bei vielen Rücken-Operationen und beim Röntgen von Rücken. In Schweden, Finnland und Norwegen werden pro Einwohner ein Drittel bis die Hälfte weniger Herzkatheter-Untersuchungen gemacht, dennoch haben die Menschen dort eine höhere Lebenserwartung. Nirgendwo werden mehr Stents in Herzkranzarterien implantiert als in Deutschland, ohne dass die Menschen deshalb länger von Infarkten oder Komplikationen verschont blieben, als in anderen wohlhabenden Ländern.
Geht es uns unterm Strich mit unserem Gesundheitswesen dennoch besser?
Bartens: Bei der Lebenserwartung ist Deutschland unter den industrialisierten Ländern nicht führend, sondern nur unteres Mittelfeld. Auch die Müttersterblichkeit ist in Deutschland doppelt so hoch wie in Skandinavien. Das hat möglicherweise auch damit zu tun, dass es bei uns doppelt so viele Kaiserschnitt-Operationen gibt wie in Finnland, Norwegen und Schweden. In Deutschland werden heute bei zwei Drittel aller werdenden Mütter "Risikoschwangerschaften" diagnostiziert, was bei den Frauen zu Angst und bei Ärzten zu einer Absicherungsmedizin führt.
Bei den Knieoperationen zählt Bayern zur Weltspitze. Warum ist das so?
Bartens: In Bayern liegt die Wahrscheinlichkeit, eine Knieprothese zu erhalten, um 70 Prozent höher als in Berlin, Hamburg oder dem Saarland. Vielleicht liegt’s ja an den Bergen, dass sich die Bayern beim Kraxeln auf Dauer die Knie kaputt machen? Nein, das hat viel mehr mit medizinischen Vorlieben, chirurgischen Traditionen aber vor allem mit Geld zu tun. Diese Operationen sind sehr lukrativ und sehr gut planbar. Da sagt man dem Patienten schnell: Das operieren wir, dann haben Sie Ruhe. Die Orthopädie gilt in vielen Kliniken als die "Cash Cow". Natürlich steigen auch die Ansprüche im hohen Alter, aber man sollte die Erfolgsaussichten der Operation nicht überschätzen und erst einmal konservative Methoden wie Physiotherapie ausschöpfen. Früher waren bei Knorpelschäden Kniespiegelungen - sogenannte Arthroskopien - beliebt. Dann gab es vor 20 Jahren eine US-Studie: In einer Gruppe polierten sie die Knorpel und spülten das Gelenk, in einer Gruppe wurde nur gespült, in der dritten machten die Ärzte eine Scheinoperation: Sie ritzten nur die Haut an und das Spülgeräusch kam vom Band. Ergebnis: Ausgerechnet in der Placebo-Gruppe fühlten die Patienten die beste Linderung. Doch nach einem halben Jahr hatten alle drei Gruppen wieder die gleichen Beschwerden. Dennoch wurde in Deutschland bis 2015 munter unnütz weiteroperiert.
In Ihrem neuen Buch "Ist das Medizin oder kann das weg?" bringen Sie unzählige weitere Beispiel unnötiger weit verbreiteter Behandlungen. Sie gehen auch kritisch mit manchen Vorsorgeuntersuchungen wie der Mammographie ins Gericht. Warum?
Bartens: Aus heutiger Sicht hätte man das flächendeckende Mammographie-Screening nicht einführen müssen, weil das Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht eindeutig positiv ausfällt. In sehr vielen Studien hat sich gezeigt, dass wenn Frauen im Alter zwischen 50 und 70 zehn Jahre lang alle zwei Jahre zur Mammographie gehen, dann sterben in den kommenden zehn Jahren drei von tausend an Brustkrebs. In der Gruppe, die nicht zur Mammographie geht, sterben daran auch nur vier von Tausend. Der Nutzen ist also gering. Doch gleichzeitig werden 150 Fehlalarme bei tausend Frauen mit der falschen Diagnose Brustkrebs ausgelöst, obwohl kein Tumor vorliegt. Das löst bei den Betroffenen große Angst und Verunsicherung aus. Einige von ihnen werden sogar bei unklarem Befund unnötig operiert. Auch sonst lässt sich selten genau sagen, ob eine Tumor-Frühform tatsächlich irgendwann gefährlich wird oder nicht.
Was kann man insgesamt als Patientin oder Patient tun, um nicht Opfer gefährlicher Überversorgung zu werden?
Bartens: Ich will auf keinen Fall raten, mit Misstrauen in die Praxis zu gehen, im Gegenteil, wir haben sehr gute Ärztinnen und Ärzte. Ich rate jedem, vor dem Arztbesuch aufzuschreiben, was man wissen will und erst wieder zu gehen, wenn man alle Antworten auch verstanden hat. Es ergibt auch keinen Sinn, sich eine zweite Meinung einzuholen, wenn man die erste nicht verstanden hat. Bei Untersuchungen, Eingriffen und Behandlungen kann man die Ärzte fragen, ob sie diese auch für sich selbst oder ihre Liebsten machen lassen würden und welche Alternativen es gibt. Man sollte auch nicht verheimlichen, wenn einen psychische Belastungen quälen.
Was würden Sie sich von der Politik gegen die Überversorgung wünschen?
Bartens: Zunächst müsste die sprechende Medizin in Deutschland gestärkt werden, damit würden viele unnötige Behandlungen vermieden. Man muss finanzielle Fehlanreize, etwa durch das Fallpauschalen-System in unseren Krankenhäusern beseitigen, das zu viel zu vielen unnötigen Operationen führt. Ich bin auch ein Anhänger einer Bürgerversicherung. Denn Privatversicherte haben ein viel höheres Risiko, Opfer unnützer und riskanter Behandlungen zu werden, weil es bei ihnen noch lukrativer ist. Es ist für alle gefährlich, Klinken auf Profitmaximierung auszurichten, was gerade bei Privatisierungen geschieht. Dagegen hinkt unser Gesundheitswesen bei wissenschaftlichen Studien international weit hinterher, die zu echten Behandlungsfortschritten führen könnten. Das Wichtigste wäre, unser System viel stärker auf öffentliche Gesundheit und das Patientenwohl auszurichten. Unter den gegenwärtigen Bedingungen leiden nicht nur die Kranken, sondern ich stelle immer mehr fest, dass auch bei vielen Ärztinnen und Ärzten die Frustration wächst.
Zur Person: Werner Bartens, 55, ist Arzt und leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er hat zahlreiche Medizin-Bestseller verfasst. Sein neues Buch "Ist das Medizin – oder kann das weg?" ist jetzt bei Gräfe und Unzer (224 S., 19.99 Euro) erschienen.
Die Diskussion ist geschlossen.
Solange im Gesundheitswesen betriebswirtschaftliche Ziele und nicht der Patient im Mittelpunkt stehen, ist jegliche Art von Diskussion überflüssig.
Hier gebe ich Ihnen vollkommen Recht!
Der Patient muss im Mittelpunkt stehen und das ist vollkommen richtig.
Betriebswirtschaftlichen Ziele: Absoluter Schwachsinn Wenn, dann volkswirtschaftliche Ziele - Gesundheit des Einzelnen ist DIE Aufgabe des Staates!
In der Gesundheit muss für den Betroffenen und nicht für die Verwaltung bezahlt werden
"Man muss finanzielle Fehlanreize, etwa durch das Fallpauschalen-System in unseren Krankenhäusern beseitigen, das zu viel zu vielen unnötigen Operationen führt."
Der Mann hat absolut recht, vor allem wenn dann für die Kliniken noch Mindestmengen hinzukommen unterhalb derer bestimmte
Operationen gar nicht mehr abgerechnet werden können, braucht es nicht mehr viel Phantasie was dies für Auswirkungen hat.