So feindselig war der EU-Gipfel noch nie
Eine Kampfabstimmung in Brüssel? Undenkbar – bis Freitag. 26 Staaten nominieren Jean-Claude Juncker als Kommissionschef und der britische Premier Cameron steht als Verlierer da.
David Cameron ist geladen, als er an diesem Morgen in Brüssel das Ratsgebäude zum EU-Gipfel betritt. „Es ist wichtiger, zu seinen Prinzipien und Überzeugungen zu stehen, als etwas zu tun, das man für grundlegend falsch hält“, schleudert er den wartenden Korrespondenten entgegen. „Und Jean-Claude Juncker ist definitiv der falsche Mann.“ Klarer geht es nicht.
In der Lobby des Sitzungssaals gibt es dieses Mal kein freundschaftliches Schulterklopfen, keinen lächelnden Handschlag mit Kanzlerin Angela Merkel oder dem französischen Staatspräsidenten François Hollande. Cameron, den die offizielle Sitzordnung zufälligerweise ans Ende des langen Tisches für die 28 Staats- und Regierungschefs sortiert hat, steht noch kurz mit der dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt und der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite zusammen. Ein Blatt wird hereingereicht. Fast schon empört zeigt er es herum. Es enthalte Äußerungen Junckers, heißt es. „Ich habe eine solche Feindseligkeit noch bei keinem europäischen Gipfeltreffen erlebt“, sagt ein Teilnehmer.
Thorning-Schmidt bemüht sich noch, dem wachsenden Konflikt zwischen dem Briten und dem Rest der EU die Schärfe zu nehmen. „Was wir tun, ist bedeutender, als wer es tut.“ Aber Cameron ist in Kampfstimmung. „Egal wie hart es ist, ich werde es zu Ende bringen“, twittert er am Vormittag.
Plötzlich sitzen Merkel und Cameron im Nebenraum
In der Nacht haben mehrere Regierungschefs versucht, den Briten doch noch einzufangen. Dann, am Freitagnachmittag, sitzen Merkel und Cameron plötzlich mit ihren Beratern in einem Nebenraum, um einen letzten Versuch der Einigung zu unternehmen. Vergeblich. „Ich habe den Regierungschefs gesagt, es könne einen neuen Prozess zugunsten der EU geben, wenn man einen anderen Kommissionspräsidenten sucht“, sagt Cameron später.
So aber bleibt er dabei: Als es zum Schwur kommt, weil kein Konsens möglich ist, besteht der Premier auf einer Abstimmung fürs Protokoll. 26 Ja-Stimmen, zwei Ablehnungen. Neben dem britischen Regierungschef hält auch Viktor Orbán aus Ungarn an seinem Nein zum ehemaligen Luxemburger Kollegen fest.
Juncker selbst sitzt derweil im offenen Hemd ohne Krawatte in einem nahen Lokal und wartet ab. Zu sprechen ist er nicht, macht er klar. Schon seit einigen Wochen schweigt der 59-jährige frühere Chef der Euro-Gruppe, der als Premier des Großherzogtums 18 Jahre selbst dem EU-Gipfel angehörte und weiß, wie es dort läuft. Nun sagt er nichts und bemüht sich, locker zu wirken. Als das Ergebnis kommt, lächelt er kurz, wird dann aber schnell wieder ernst, als ahne er die Last, die jetzt vor ihm liegt.
Entscheidung für Juncker trotz zwei Gegenstimmen
Der Gipfel hat ein Tabu gebrochen. Zum ersten Mal tritt eine Entscheidung in Kraft, obwohl es zwei Gegenstimmen gibt. Die jahrelange Einigkeit ist dahin. „Er wollte die Niederlage“, sagt ein hoher EU-Diplomat. „Er wollte verlieren, die EU vorführen, um zu Hause als der bessere Europa-Gegner dazustehen.“
Es ist der Schlusspunkt unter eine Entwicklung, von der viele sagen, sie habe bereits 2009 begonnen, als der Premier aus London seine konservativen Abgeordneten im Europäischen Parlament aus der gemeinsamen Fraktion mit den übrigen Christdemokraten abzog und eine eigene konservative Gruppe gründete, die nun Zulauf auch von der AfD bekommen hat – übrigens gegen den Willen Camerons.
„Er hat nicht verstanden, dass er mit solchen Aktionen bis hin zu der Konfrontation um Juncker den britischen Einfluss in der EU nicht gestärkt, sondern geschwächt hat“, sagt ein hochrangiger französischer Diplomat. Nach der Abstimmung habe es offenen Unmut im Kreis der Staats- und Regierungschefs gegeben, berichten Teilnehmer. Unverständnis schlägt Cameron entgegen, der nun vor dem Problem steht, mit dem Mann an der Spitze der Kommission arbeiten zu müssen, den er so vehement bekämpft hat. Zumal London im wichtigsten EU-Gremium auf einen besonders gewichtigen Kommissarsposten besteht. Wie Cameron diesen Job von Juncker herausschlagen will, den er politisch so ausgegrenzt hat und auch persönlich verunglimpfen ließ, erscheint vielen an diesem Freitag schleierhaft.
EU setzt Putin unter Druck
Dabei beginnt dieser Tag ganz anders. Gegen letzte massive Warnungen aus Moskau, wo Vize-Außenminister Grigori Karassin vor „zweifelhaft ernsten Folgen“ gewarnt hat, unterschreiben die 28 Staatenlenker die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Georgien und Moldawien. Kiews neuer Präsident Petro Poroschenko revanchiert sich auf seine Weise und verlängert anschließend die Waffenruhe.
Als die Zeremonie schon in zurückhaltender Feierlichkeit zu versanden droht, holt die EU zum großen Schlag aus und setzt den russischen Präsidenten Wladimir Putin unter Druck. Sollte der nicht bis Montag entscheidende Schritte tun, um die Krise mit der Ukraine zu entschärfen und „substanzielle Verhandlungen“ mit Poroschenko beginnen, werde die Union die nächste Stufe der Sanktionen ergreifen. Dann sollen Maßnahmen in Kraft treten, die die russische Wirtschaft treffen, auch wenn man sicher ist, dass sich Moskau dafür revanchieren wird. „Die gesamte EU zeigt sich solidarisch mit der Ukraine“, betonen die Gipfelteilnehmer einstimmig. Zu diesem Zeitpunkt sind sie es noch. Kurz darauf zerbricht die Front der Einigkeit über die Personalie Juncker.
Spaltung der EU-Familie hinterlässt Narben
Die Spaltung der europäischen Familie kommt zwar nicht überraschend, doch sie hinterlässt Narben. Vor allem deshalb, weil Cameron konsequent alle Versuche, ihn umzustimmen, ablehnt. Nach dem Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs im belgischen Ypern am Donnerstagabend legt Ratspräsident Herman Van Rompuy den Staats- und Regierungschefs beim Abendessen eine „strategische Agenda“ vor, um die Meinungsverschiedenheiten zu versachlichen. In dem fünfseitigen Papier ist viel von Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit die Rede. Die Bundeskanzlerin wiederholt in dem Kreis, dass man einige inhaltliche Ziele deutlicher hervorheben könne, um London entgegenzukommen. Schließlich stehe Großbritannien mit seinem Wunsch nach einer Neuausrichtung der EU-Politik nicht alleine da. „Wir können hier auch ein Stück auf Großbritannien zugehen.“
Sogar bei der Frage, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt geändert werden solle, um einigen Ländern mehr finanziellen Spielraum für Investitionen zu erlauben, verständigt man sich. Der Pakt bleibt „unangetastet“, wie es im Schlussdokument heißt. Aber die in dem Papier angelegte Flexibilität soll „bestens“ ausgenutzt werden, ergänzt man den Entwurf der Gipfelvereinbarungen.
Juncker hat Gegner in den großen Fraktionen
Am 16. Juli soll Juncker nun vom Europäischen Parlament gewählt werden – ein Akt, der nach der Zusage der Sozialdemokraten, den konservativen Wahlsieger der Europawahl mitzutragen, als reiner Vollzug gilt. Doch dem ist nicht so. In beiden großen Fraktionen hat Juncker Gegner. Inzwischen bemühen sich die Fraktionschefs, wenigstens noch die Liberalen mit ins Boot zu holen – zur Sicherheit. „Nicht auszudenken, wenn der Kandidat nach dem Theater im Rat nun im Parlament scheitern würde“, sagt ein hochrangiger EU-Diplomat.
Wenn europäische Gipfel zu Ende gehen, gibt es ein Ritual. „Das ist ein guter Tag für Europa“, lautet einer der Standardsätze, die jeder Staats- und Regierungschef vor den Medienvertretern zu wiederholen pflegt. An diesem Freitag taucht er nur selten auf. Als die Gipfel-Teilnehmer Brüssel verlassen, herrscht eine beklemmende Atmosphäre.
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