Der britische Premier gilt als Meister des Ungefähren. Doch mit der Macht erwachsen neue Zwänge – und Probleme, die über den Brexit hinausreichen.
Der Mann, der als Kind ganz unbescheiden Weltkönig werden wollte, trägt nun unangefochten die Krone. Boris Johnson hat die Parlamentswahl geradezu triumphal gewonnen und seinen Konservativen eine Mehrheit beschert, die zuletzt Margaret Thatcher auf dem Zenit ihres Erfolgs eingefahren hat. Der Premier kann durchregieren. Die Frage ist, wie er seine Macht nutzen wird.
Niemand weiß, wie Boris Johnson tickt
Denn auch wenn Johnson seit Jahren prominent auf der politischen Bühne der Insel agiert, er blieb auch immer ein Rätsel. Niemand weiß wirklich, wie er tickt oder von welchen Prinzipien er tatsächlich geleitet wird. Bislang nutzte der ehrgeizige Politiker Downing Street vor allem als Wahlkampfzentrale, wirklich regiert hat er noch nicht. Vielmehr ging er in Populismus-Manier leichtfertig mit der Wahrheit um, um seine Fans zu befriedigen und an die Spitze des Königreichs zu gelangen. Aber Macht ist enthüllend. In den nächsten Wochen wird Johnson offenlegen müssen, wie er sich die Zukunft des Königreichs vorstellt und was an die Stelle der EU-Mitgliedschaft treten soll.
Wird der Premier die Tories weiter nach rechts rücken oder zurück in Richtung politische Mitte steuern? Wird der bislang polarisierende Konservative die tief zerstrittene Bevölkerung weiter spalten? Oder als Regierungschef auftreten, der die Nation zu versöhnen versucht? Es wäre dringend notwendig nach jahrelangen und erbittert geführten Streitereien. So ist es möglich, dass es Überraschungen gibt, insbesondere nach dem EU-Austritt des Königreichs am 31. Januar 2020.
Denn Johnson hat jetzt deutlich mehr innenpolitischen Spielraum. Wenn es in die nächste Runde der Verhandlungen mit der EU um die künftigen Handelsbeziehungen geht, könnte dies dazu führen, dass Johnson abrückt von der Zusage, keineswegs die Übergangsperiode verlängern zu wollen, die im Dezember 2020 endet. In dieser gelten auf der Insel weiter die EU-Regeln. Doch dass ein umfassendes Freihandelsabkommen in so kurzer Zeit ausgehandelt werden kann, gehört ins Reich der Utopie. Abermals besteht die Gefahr eines ungeordneten No-Deal-Brexit mit katastrophalen Folgen für die hiesige Wirtschaft. Dieses Risiko einzugehen, kann sich Johnson eigentlich nicht leisten.
Johnson muss die Interessen des Nordens beachten
Denn künftig bedient der Konservative auch eine neue Wählerschaft im Norden Englands und in den Midlands, die stark abhängig von der verarbeitenden Industrie ist. Sollte Großbritannien keinen guten Handelsdeal mit Brüssel erzielen, würden Unternehmen und damit Arbeiter massiv getroffen. Es ist also gut möglich, dass der Premierminister eine Kehrtwende einleitet und einen weicheren Brexit anstrebt. So könnte Johnson das Prozedere zudem beschleunigen, denn je weiter sich Großbritannien von den EU-Regeln und -Standards entfernen will, desto langwieriger werden die Verhandlungen. Gleichwohl könnte es auch passieren, dass Johnson den offenen Streit mit Brüssel suchen wird, indem er maximale Forderungen stellt und auf ein Einknicken der EU hofft.
Nur: Johnson hat inzwischen ohnehin ganz andere Probleme. Das Land nämlich zeigt längst Zerfallserscheinungen. Das Königreich zusammenzuhalten, wird die größte Herausforderung seiner Amtszeit werden. Während in Nordirland jene republikanischen Kräfte siegten, die auf eine Vereinigung mit der Republik Irland drängen, kämpft in Schottland die Erste Ministerin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party um ein neuerliches Referendum über die Unabhängigkeit. Nach dem durchschlagenden Erfolg der schottischen Nationalisten wird Johnson diesen Wunsch nicht mehr allzu lange ablehnen können.
Lesen Sie dazu auch: Brexit, Schottland und Co: Sechs Lehren aus der Großbritannien-Wahl
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Die Diskussion ist geschlossen.
>> Nach dem durchschlagenden Erfolg der schottischen Nationalisten wird Johnson diesen Wunsch nicht mehr allzu lange ablehnen können. <<
Immer wieder bemerkenswert, wie unterschiedlich die Wertung von "Nationalisten" in der Presse ausfällt...
Man stelle sich vor, ein paar Bayern wollen einen eigenen Freistaat - im Gegensatz zu den Katalanen oder Schotten erwarte ich dann eigentlich sofort massive Vorwürfe in Bezug zu Deutschlands dunkelster Geschichte.
Sobald es gegen Trump, Putin und Johnson ist in der deutschen Presse alles erlaubt. Nehmen wir noch China und einige andere vogelfreie Länder mit dazu - dann sind die "Guten" allmählich in der Minderzahl.
"Immer wieder bemerkenswert, wie unterschiedlich die Wertung von "Nationalisten" in der Presse ausfällt..."
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Sehr feinsinnig erkannt! Wenn es gilt, gegen vermeintliche Populisten zu hetzen, ist sogar "Nationalismus" wieder hoffähig. Zeitweise durfte man in Deutschland ja nicht mal mehr "Nationalmannschaft" sagen, es war "die Mannschaft" !!