
Erdogans Epos vom Widerstand des Volkes gegen die Putschisten kann die Empörung vieler Türken über die wachsende Repression, Korruption und die gescheiterte Wirtschaftspolitik nicht mehr überdecken.
Die Türken haben schon so viele Staatsstreiche erlebt, dass sie die diversen Umsturzversuche mit Tag und Monat bezeichnen, um sie auseinanderhalten zu können. Wenn man in der Türkei zum Beispiel über den „12. September“ spricht, ist jedem klar, dass der Putsch von 1980 gemeint ist. Der „28. Februar“ steht für den – letztlich erfolgreichen – Versuch der Militärs im Jahr 1998, den islamistischen Premier Necmettin Erbakan von der Macht zu verdrängen. Seit 2016 ist der „15. Juli“ dazugekommen. Der versuchte Putsch von Teilen der Armee hat die Türkei mindestens so sehr verändert wie die Staatsstreiche in den Jahrzehnten davor, vielleicht noch mehr.
Kurz nach dem Putsch war Erdogan beliebt wie nie
Die große Mehrheit der Türken – auch die meisten Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan – lehnten den Putschversuch als Angriff auf die Demokratie ab. Unmittelbar nach dem Umsturzversuch erreichte der Zuspruch für Erdogan einen Höhepunkt. Doch dann beschleunigte der Putsch den Marsch der Türkei in eine Autokratie, in der politische Gegner der Regierung als potenzielle Verräter verfolgt werden. Die Einführung des Präsidialsystems unter dem Eindruck des Aufstandes bescherte dem Land ein Regierungssystem, das fast die ganze Macht in den Händen eines einzigen Mannes legt und demokratische Kontrollinstanzen außer Kraft setzt. Fünf Jahre nach dem Putsch will Erdogans Regierung die Kurdenpartei HDP als drittstärkste Kraft im Parlament verbieten lassen und den Oppositionsführer aus der Volksvertretung werfen. Medien und Justiz wurden von der Regierung größtenteils auf Linie gebracht. Selbst friedliche Kritik und Protestkundgebungen werden zu Terrordelikten umgedeutet.
Doch Wahlniederlagen der AKP bei Kommunalwahlen in großen Städten zeigen, Erdogans Heldenepos vom Widerstand des Volkes gegen die Putschisten kann die Empörung vieler Türken über die wachsende Repression, Korruption und die Enttäuschung über die gescheiterte Wirtschaftspolitik nicht mehr überdecken.
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