Polen und Ungarn belasten die Einheit der EU schon lange. Jetzt ist die europäische Rechtsgemeinschaft in Gefahr. Darauf muss die Kommission schnell reagieren.
Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts lässt den Streit zwischen Warschau und Brüssel vollends eskalieren, denn es geht um das Herzstück der Staatengemeinschaft: den gemeinsamen Rechtsstand der Europäischen Union. Tatsächlich stellt die Entscheidung die gesamte Architektur der europäischen Rechtsgemeinschaft infrage. Deshalb muss die Kommission nun schnell und in aller Härte reagieren. Die EU funktioniert nur, solange Europarecht Gültigkeit hat.
Die EU-Kommission hätte früher gegen Polen und Ungarn vorgehen müssen
Viel zu lange hat die Brüsseler Behörde die Entwicklung in Polen, aber auch in Ungarn, laufen lassen. Mahnende Worte gab es zuhauf, Konsequenzen aber kaum. Das rächt sich nicht erst jetzt. Abgesichert mit Steuergeldern aus den Mitgliedstaaten haben die Regierungen in Warschau und Budapest jahrelang den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat vorangetrieben. Dabei verfügt die EU über machtvolle Instrumente. Seit Jahresbeginn steht etwa der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus zur Verfügung, der es ermöglicht, einem Land Fördermittel zu kürzen oder gar zu streichen, wenn die Rechtstaatlichkeit gefährdet ist und das Risiko besteht, die Gelder könnten missbräuchlich verwendet werden oder in zwielichtigen Geschäften versickern.
Der Mechanismus muss nun aktiviert werden. Wer sich nicht an die gemeinsamen Regeln hält, der darf auch keine finanzielle Unterstützung aus Brüssel erhalten. Das Problem ist, dass der Prozess zur Anwendung der Klausel monatelang dauern wird. Deshalb sind daneben nun auch kurzfristige Sanktionen notwendig wie etwa finanzielle Strafen für jeden Tag des Rechtsverstoßes sowie das vorläufige Einfrieren der Gelder aus dem Corona-Rettungsfonds. Ein solcher Entzug würde die autoritären Regierungen in Polen und Ungarn treffen, wo es ihnen am meisten wehtut: beim Geld. Denn sie gehören zu den größten Profiteuren von EU-Mitteln. Es dürfte der einzige Weg sein, sie zum Einlenken zu bewegen.
Das Problem zwischen den Nationalstaaten und der EU dürfte kaum zu lösen sein
Falls das jedoch nicht geschieht, steht die EU vor einem Problem, das praktisch nicht zu lösen ist ohne eine Änderung der europäischen Verträge. Das aber ist aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips wiederum unvorstellbar. Die Gemeinschaft steckt in einem Dilemma, das die EU leider selbst zu verantworten hat.
Die Diskussion ist geschlossen.
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben - das ist der Hauptwert der Werte-Union.
Halten wir mal fest:
Die EU ist selbst kein Staat, auch kein föderaler, verfügt über kein EU-Volk, über kein Staatsgebiet, über keine Verfassung, die ein "EU-Volk" ratifiziert hat. Das ganze Konstrukt basiert auf Verträgen zwischen den Mitgliedsstaaten.
Mit welchem Recht also sollten die Gesetze dieser Instanz, bzw. die Entscheidungen eines Europäischen Gerichtshofs über der Verfassung eines Mitgliedsstaates stehen, sofern dieser es nicht duldet? Ein deutsche Regierung mag vielleicht kuschen, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des EuGH für Verfassungswidrig erklärt (siehe Urteil zur Verhältnismäßigkeit der Anleihekäufe der EZB vom Mai 2020, Stichwort "Staatsfinanzierung"), die Polen tun das eben nicht.
Ergo belasten nicht die Polen oder Ungarn die Einheit der EU, sondern der ungelöste Konflikt zwischen einer EU, die immer selbstverständlicher über die Souveränitätsrechte ihrer Mitglieder hinweg regieren möchte, sowie jenen Staaten, die lieber heute als morgen als Bundesstaat in einem Groß-Europa aufgehen wollen, und den anderen, die die EU als das sehen, was es einmal sein sollte: Ein Bund souveräner Nationalstaaten.
Sie fragen, mit welchem Recht "die Gesetze dieser Instanz, bzw. die Entscheidungen eines Europäischen Gerichtshofs über der Verfassung eines Mitgliedsstaates stehen".
Die Antwort ist einfach: Polen hat sich mit der Beitrittserklärung zur EU dem EU-Rechtssystem unterworfen, zumindest was die grundlegenden Werte der EU angeht. Dazu gehören z. B. eine unabhängige Justiz und freie Medien.
Das polnische Verfassungsgericht, das nun geurteilt hat, ist aber gerade nicht mehr unabhängig, da es von der in Polen herrschenden Regierungspartei PIS nach eigenem Gutdünken umstrukturiert und mit willfährigem Personal besetzt wurde. Die PIS hat damit nicht nur gegen die polnische Verfassung, sondern auch gegen EU-Recht verstoßen.
@ Wolfang L.
Das ist richtig. Polen hat sich, so wie die anderen Mitgliedsstaaten, freiwillig dem EU-Recht unterworfen, wohl in der Annahme, daß die EU-Kommission und -Instanzen die Souveränität der Mitgliedstaaten innerhalb ihres handelns achten würden.
Damit sind die Verfassungen der Mitgliedstaaten jedoch weder außer Kraft gesetzt, noch dem EuGH unterworfen. Und es ist auch nicht geregelt, wer im Konfliktfall vorrang hat.
Die Antwort der EU auf das von mir als Beispiel (und es ist nicht das einzige: Stichwort Flüchtlings-Verteilmechanismus) genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichtes war ein Vertragsverletzungsverfahren der EU. Seither hat man nichts mehr davon gehört, vermutlich wurde das Problem Unabhängigkeit der EZB vs. Finanzhoheit der Länder/Notenbanken irgendwie ausgeklüngelt. Der ungelöste, grundlegende Widerspruch besteht nach wie vor, und die EZB kauft weiter lustig Anleihen in Billionenhöhe.
Ich zitiere zu dem grundlegenden Poblem die SZ vom 12.05.2020:
"Sowohl die EZB als auch der EuGH haben aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts "Ultra vires" gehandelt - außerhalb ihrer Zuständigkeiten. In den aufgeregten Reaktionen auf das Urteil ist ein wenig untergegangen, dass dieses "Ultra vires"-Konstrukt ein zwar oft kritisiertes, aber in der Karlsruher Rechtsprechung seit Jahrzehnten angelegtes Konzept ist. Dahinter steckt letztlich eine demokratische Idee: Weil die Europäische Union nun einmal kein Staat sei, müssten sich ihre Organe an die Ermächtigungen halten, die ihnen von den Mitgliedstaaten gewährt wurden, da dort die demokratische Basis der Union liege. Auch anderswo in Europa hat dieser letzte staatliche Vorbehalt gegen EU-Entscheidungen Karriere gemacht; Gerichtshöfe in Dänemark, Tschechien und Frankreich haben davon Gebrauch gemacht.
Sollte Berlin - gezwungen durch ein Vertragsverletzungsverfahren - das Ultra-vires-Konzept abschaffen und den unbedingten Vorrang des EU-Rechts selbst bei willkürlichen Entscheidungen von EU-Organen festschreiben wollen, wäre das nicht weniger als ein Systemwechsel. Es ist nicht einmal klar, ob sich ein solcher Systemwechsel durch eine Änderung des Grundgesetzes vollziehen ließe. Nach bisheriger Karlsruher Rechtsprechung könnte dies gegen den Kern des Demokratieprinzips verstoßen. Und gegen solche substanziellen Änderungen gibt es eine Sperre im Grundgesetz, die Ewigkeitsklausel.
Wer sie überwinden will, müsste womöglich eine Volksabstimmung herbeiführen: Unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Näher liegt es, ein Verfahren zu schaffen, das Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichtshöfen beilegt, um solche Streitigkeiten von vornherein zu vermeiden. Dafür benötigte man freilich kein Vertragsverletzungsverfahren."
Fazit:
Das dem aktuellen polnischen "Schein-Skandal" zugrundeliegende Problem existiert seit eh und jeh und ist ungelöst, es kam bisher nur deshlab nicht zum Showdown, weil offensichtlich die Beteiligten vor den möglichen Konsequenzen regelmäßig zurückschreckten.
Was die Unabhängikeit des polnischen Verfassungsgerichts betrifft, mag Kritik gerechtfertigt sein, sie hat aber mit dem Konflikt EuGH / Länderverfassungen nichts zu tun.
Abgesehen davon sollten wir Deutschen, bevor wir hier anfangen, den ersten Stein zu werfen, erst mal genau hinsehen, wie es denn bei uns mit der Unabhängigkeit der Justiz von Exekutive, Ministerien/Regierungen etc aussieht. Wer schlägt denn bei uns Richter/Verfassungsrichter vor und ernennt sie? Wie war das mit der Weisungsgebundenheit von Staatsanwälten (=Beamte) an die Justizminister? Daher urteilte übrigens der EuGH am 27.05.2019, daß die Ausstellung von europäischen Haftbefehlen durch deutsche Staatsanwälte rechtswidrig seine. ;-)
Stefan R., Sie wollen doch nicht ernsthaft die Verhältnisse in Polen mit denen in Deutschland vergleichen. In Polen macht sich eine Partei den Staat zur Beute, indem sie Justiz und Medien gleichschaltet. Das Ziel ist, den demokratischen Prozess in Polen auszuhöhlen. Das kann die EU nicht dulden und deswegen müssen massive finanzielle Konsequenzen folgen. Letztlich muss dann aber der polnische Wähler entscheiden, ob Polen in der EU bleiben will oder nicht.
Das deutsche Verfassungsgericht hat im Streit mit dem EuGH übrigens längst beigedreht, reale Konsequenzen hatte das dämliche Abschiedsgeschenk Voßkuhles ohnehin nicht. Da hat sich wohl einer zu wichtig genommen und die Konsequenzen seines Handelns nicht so ganz überschaut.