Streit mit Polen: Europa hat sich in eine Sackgasse manövriert
Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau ist eskaliert. Nicht weniger als das Fundament der Gemeinschaft steht auf dem Spiel. Was nun zu tun ist.
Es herrschten Stolz und Begeisterung über die „beispiellose Erfolgsgeschichte“, wie der damalige Premierminister Donald Tusk es nannte. Am 1. Mai 2004 trat Polen der Europäischen Union bei. Nur, die Vergangenheit ist bekanntlich eine andere Welt. 17 Jahre später warnt eben jener Tusk in der Rolle des Oppositionsführers vor einem Polexit. Und das Damoklesschwert eines möglichen EU-Austritts hängt seit vergangenem Donnerstag noch tiefer über Brüssel, nachdem das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts den Streit zwischen Warschau und Brüssel vollends eskalieren ließ. Den Richtern zufolge seien wesentliche Teile der Europäischen Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar. Es geht um das Herzstück der Staatengemeinschaft: den gemeinsamen Rechtsstand der EU.
Das Getöse aus Warschau erinnert in mancherlei Hinsicht an die scharfe Rhetorik aus Großbritannien, wo Europaskeptiker so lange und laut, so provokativ und unehrlich gegen Brüssel schossen, dass das Land am Ende von Hardlinern aus der Staatengemeinschaft gezerrt worden war. Aber selbst im von der Idee der Souveränität besessenen Königreich zweifelte man nie das Fundament an, auf dem Europa ruht.
Die Grundrechte müssen in den EU-Staaten über allem stehen
Der Angriff von Seiten Polens auf die Union ist beispiellos in der Geschichte der europäischen Integration. Die Gefahr besteht, dass er Nachahmer findet. Deshalb muss die Kommission, Hüterin der europäischen Verträge, nun in aller Härte reagieren. Die EU funktioniert nur, solange die Grundrechte über alles andere gesetzt werden: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Die Prinzipien bilden den ureigenen Kern der Staatenfamilie. Wird er entfernt, verkommt die Gemeinschaft zu einem losen Verbund von Wirtschaftsinteressen. Viel zu lange hat die Brüsseler Behörde die Entwicklungen in Polen, aber auch in Ungarn, laufen lassen. Es gab Sonntagsreden und mahnende Worte zuhauf, Konsequenzen aber kaum. Das rächt sich nicht erst jetzt. Abgesichert mit Steuergeldern aus den Mitgliedstaaten haben die Muskeln spielenden Autokraten immer dreister den Rechtsstaat ausgehöhlt.
Was also wird Brüssel tun? Forderungen nach einem EU-Ausschluss sind nicht nur polemisch, sondern auch leichtsinnig. Die polnische Zivilgesellschaft ist ohnehin stärker mit dem europäischen Projekt verbunden als das die populistische Führung in Warschau derzeit vermuten lässt. Stattdessen bleibt der EU die Option, die Verteilung von Geld an die Wahrung der Werte zu koppeln. Denkbar ist etwa die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens, das mit einer weiteren Klage vor dem Europäischen Gerichtshofs und mit Finanzsanktionen enden könnte. Daneben kann Brüssel die Gelder aus dem Corona-Rettungsfonds einfrieren. Polen stehen beinahe 24 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem EU-Hilfstopf zu. Wie könnte die EU ihren europäischen Bürgern einen solchen Transfer verkaufen? Es wäre ein fatales Signal. Derweil träfe ein Entzug von Geldern die Regierungen in Polen und Ungarn da, wo es ihnen am meisten wehtut. Es dürfte der einzige Weg sein, sie zum Einlenken zu bewegen.
Konflikt mit Polen: Es geht um alles für die EU
Falls selbst das nicht hilft, steht die Union vor einem Problem, das praktisch nicht zu lösen ist ohne eine Änderung der europäischen Verträge. Das aber ist aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips wiederum unvorstellbar. Die Gemeinschaft hat sich selbst in eine Sackgasse hineinmanövriert. Ob und wie sie aus dieser wieder herausfinden wird, ist noch offen. Aber der Umgang damit wird den künftigen Kurs der EU bestimmen.
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