Nach Urteil: Steht die 24-Stunden-Pflege vor dem Aus?
Ein Urteil gibt einer Pflegerin recht und spricht ihr einen Mindestlohn für täglich 21 Stunden zu. Doch das können sich Familien oft kaum leisten.
Es ist Nacht. Die Seniorin braucht Hilfe und die Pflegerin muss aufstehen, die Windel, vielleicht auch das Nachthemd wechseln. Doch nicht nur nachts, rund um die Uhr, jeden Tag muss die Pflegerin bereitstehen. So erzählt sie es der Deutschen Welle. Und das, obwohl sie für nur 30 Stunden in der Woche bezahlt wird. Die Bulgarin klagte. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte im August die Entscheidung der vorherigen Instanz und sprach der Frau den Mindestlohn zu – für eine tägliche Arbeitszeit von 21 Stunden. Das Urteil könnte die ganze Branche der 24-Stunden-Betreuung umkrempeln. Betroffen sind zehntausende Menschen, die im eigenen Zuhause betreut werden, sowie diejenigen, die sie pflegen.
Es ist ein Modell, mithilfe dessen es vielen Familien in Deutschland überhaupt erst ermöglicht wird, die pflegebedürftigen Angehörigen in der gewohnten Umgebung zu belassen. Betreuerinnen, häufig aus Osteuropa, ziehen zu einem oder einer Seniorin nach Hause. Sie kümmern sich um den Haushalt und versorgen die zu pflegende Person. Sie werden als sogenannte Live-ins bezeichnet. Die Betreuerinnen arbeiten laut Theresa Tschenker in verschiedenen Vertragsmodellen. Tschenker arbeitet an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder an einem Forschungsprojekt zu Modellen der Live-in-Pflege. Die Juristin erklärt, welche Modelle derzeit üblich sind.
Eine Studie soll klären, ob die Vermittlungsagenturen legal arbeiten
Beim Arbeitgebermodell ist die Betreuungsperson oder ein Angehöriger der Arbeitgeber. Dadurch sei die soziale Absicherung der Live-ins sichergestellt. Bei einem anderen Modell sind die Betreuerinnen als Selbstständige tätig, schreiben Rechnungen. Zudem gebe es das Entsendemodell. Dort sei die Betreuerin bei einer Vermittlungsagentur, meist in ihrem Heimatland, angestellt und werde nach Deutschland geschickt. Tschenker und ihre Kollegen untersuchen, ob Agenturen, die eine 24-Stunden-Betreuung anbieten, auch legal arbeiten. Die Studie läuft noch ein Jahr lang. Bisher kristallisiert sich laut Tschenker jedoch heraus: „Wir mussten feststellen, dass sich die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Modellen nicht wirklich unterscheiden.“ Die Familien gingen davon aus, dass sie eine 24-Stunden-Betreuung einkaufen – egal, welches Vertragsmodell zugrunde liege. „Auch wenn die Agenturen sagen, dass sie Aufklärungsgespräche über Ruhezeiten führen, lebt die Branche davon, dass die Freizeitversprechen nicht eingehalten werden.“
So wie bei der Klägerin aus Bulgarien. Justyna Oblacewicz begleitet die Frau in dem Fall. Oblacewicz arbeitet für das Projekt Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Dort wird vor allem Menschen aus Ost- und Mitteleuropa bei arbeits- und sozialrechtlichen Problemen geholfen.
Würden alle Betreuungskräfte klagen, würde das Modell kollabieren
Oblacewicz sieht die weitestgehende Bestätigung des Urteils sehr positiv. „Es zeigt, dass entgegen der üblichen Praxis in der Branche jede gearbeitete Stunde sowie Bereitschaftszeit mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden müssen. Das Modell funktioniert bisher so, dass massive Gesetzesverstöße stattfinden.“ Würden sämtliche Betreuungskräfte klagen, wäre das Modell nicht mehr bezahlbar.
Laut Bundesarbeitsministerium wird in Deutschland in etwa 100.000 Haushalten eine privat finanzierte Pflege- oder Hilfskraft beschäftigt. So zumindest die offizielle Zahl. Laut Frederic Seebohm sind es sogar 300.000. Auch der Geschäftsführer des Verbands für Häusliche Betreuung und Pflege begrüßt das Urteil. Der Verband setzt sich laut Seebohm für mehr Rechtssicherheit für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ein. Auch er sieht Bedarf für Verbesserungen, denn der Anteil der Schwarzarbeit in der Betreuung zu Hause liege bei 90 Prozent. Der Geschäftsführer schlägt vor, dass sich Deutschland am österreichischen Modell orientiert. Seebohm sagt: „Die Betreuungspersonen werden von Vermittlungsagenturen zu Familien vermittelt und verhandeln ihre Honorare selbst.“ Seebohm vergleicht das Modell mit dem der freien Mitarbeiter wie bei Solo-Handwerkern oder Journalisten.
Eine 24-Stunden-Betreuung könne es sowieso nicht geben. Das sei eine Formulierung, die sich bei Suchanfragen im Internet eingebürgert habe. Seebohm sagt: „Wir brauchen flexible Möglichkeiten, sodass sich eine freie Mitarbeit mit den Vorteilen der gesetzlichen Sozialversicherung kombinieren lässt.“ Aber Seebohm kritisiert auch die strengen Regeln zur Präsenzzeit im Arbeitsrecht: „Nur weil ich vor Ort bin, muss ich nicht bezahlt werden. Bei der freien Mitarbeit gibt es keine Bereitschaftszeit.“ Anders sei dieses Modell kaum umsetzbar.
Zur Pflege in häuslicher Gemeinschaft gibt es keine Alternative
Seebohm sieht zur Betreuung in häuslicher Gemeinschaft aber keine Alternative. Es gebe nicht genügend Pflegepersonal für Heimplätze und viele Senioren würden gerne daheim gepflegt werden. Kritik von Gewerkschaften, dass die Betreuerinnen aufgrund schlechter Sprachkenntnisse nicht für ihre Rechte eintreten könnten, sieht er nicht so: „Wir müssen uns vom Bild der hilflosen Betreuungsperson verabschieden. Diese Menschen sind häufig ausgezeichnet informiert und reisen ab, wenn sie unzufrieden sind.“
Tschenker sieht dagegen ein großes Abhängigkeitsverhältnis, weil die Live-ins auch ein intimes Verhältnis zu den Pflegebedürftigen aufbauten – eine Klage zerstöre das Vertrauen. Auch das österreichische Modell sieht sie nicht als Vorbild: „Das war eine Legalisierung der Branche, ohne wirklich etwas an den Arbeitsbedingungen zu ändern.“
Das Argument Bezahlbarkeit darf Ausbeutung nicht rechtfertigen
Justyna Oblacewicz hofft auf eine Reform des Pflegesystems. Das sei derzeit wie eine Teilkaskoversicherung, Familien und Pflegeversicherung teilten sich die Kosten. „Das ist nicht günstig, aber für Familien aus dem Mittelstand erschwinglich.“ Wenn die Kosten steigen, sei die Betreuung für diese Familien nicht mehr bezahlbar. Das dürfe aber kein Argument sein, um dieses Ausbeutungsmodell nicht abzuschaffen. „Sondern es bedeutet, dass häusliche Betreuungskräfte im gesetzlich zulässigen Rahmen arbeiten und entsprechend bezahlt werden.“
Ähnlich sieht es Tschenker: „Ich denke, dass diese Eins-zu-eins-Betreuung aufgrund des gesellschaftlichen Wandels nicht aufrechtzuerhalten ist.“ Es müsse viel Geld und Energie in den Aufbau kollektiverer Betreuungsformen fließen. Tschenker sagt, sie verstehe, dass Menschen ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen wollen. Doch diese individuelle Eins-zu-eins-Betreuung sei ein Luxus, der auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sei: „Hier muss sich der Diskurs in der Gesellschaft ändern.“
Ob das Urteil all das bewirken und die Branche grundsätzlich verändern kann? Sicher beantworten kann Tschenker das nicht: „Es ist wie immer im Recht: Wo keine Klägerin, da kein Richter.“ Und auch der aktuelle Fall ist noch nicht vorbei und könnte noch vor dem Bundesarbeitsgericht landen.
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