Protestkultur: Wer demonstriert hier – und warum?
Umweltschutz, Diesel-Skandale und hohe Mieten treiben die Menschen auf die Straße. Doch wer sind die Demonstranten?
Der Diesel-Kämpfer: „Das Fahrverbot enteignet Menschen“
Ioannis Sakkaros, 26, Mechatroniker beim Autobauer Porsche, ist Initiator der Diesel-Proteste in Stuttgart: "Seit fünf Wochen ziehe ich eine gelbe Weste über, um gegen das Diesel-Fahrverbot in Stuttgart zu protestieren. Seit Jahresbeginn dürfen hier Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 4 und schlechter nicht in die Umweltzone einfahren. Verantwortlich sind meiner Meinung nach Automobilindustrie und Regierung. Die Automobilindustrie, weil sie jahrelang Abgaswerte manipuliert hat. Die Regierung, weil sie verschlafen hat, die Automobilindustrie dafür zu belangen. Das Verbot enteignet Menschen, die einen Diesel besitzen. Diese Autos werden verschrottet, obwohl sie vielleicht noch weitere zehn Jahre fahren würden. Zum Teil sind diese Menschen auf ein Auto angewiesen und müssen sich nun ein neues beschaffen. Was das Verbot also bringt? Es kurbelt die Wirtschaft an, während es die einfachen Leute bestraft. Deswegen habe ich zu den Protesten aufgerufen. Wir tragen Gelbwesten, um uns solidarisch mit Frankreich zu zeigen, das mit ähnlichen Problemen kämpft. In Frankreich war die Weste ein Symbol der Überparteilichkeit. Das soll sie auch bei uns sein. Es geht uns nicht um politische Gesinnung, sondern um die Sache: das Fahrverbot. Davon sind viele betroffen – ganz egal, ob sie links, rechts oder mittig wählen. Und der Protest wächst. Zuletzt sind wir mit 1500 Menschen auf die Straße gegangen, vor fünf Wochen waren es noch einige hundert. Bis eine Lösung gefunden ist, werden wir weiter demonstrieren." (elisa)
Die Gegenspielerin: „Es gab in Bayern einen Rechtsruck“
Heike Martin, 43, war Mit-Organisatorin der #ausgehetzt-Demonstration im vergangenen Jahr in München: "Anfang 2017 hat sich die Initiative ,Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie‘ in München gegründet, das waren vielleicht zehn Leute. Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer hatten das Gefühl, dass sie immer wieder gegen Wände rennen. Die politische Lage gerade in Bayern verhinderte die Integration von Geflüchteten.
Der Diskurs hatte sich verändert, die Lager entfernten sich immer weiter voneinander, es gab eine Entwicklung hin zu einem stärkeren Konservatismus, einen regelrechten Rechtsruck. Für die #ausgehetzt-Demo haben wir uns mit anderen Gruppierungen zusammengeschlossen, um stärker zu sein und den Diskurs mitzubestimmen. Wir wollten zeigen, dass vieles von dem, was in Bayern stattfindet, nicht in unserem Namen geschieht – auch, wenn Herr Seehofer und Herr Söder das gerne so behauptet haben. Und ich glaube auch, dass wir etwas bewegt haben. Die Demonstrationen in München waren wirklich massiv. Was mich aber noch mehr bewegt hat, waren die unzähligen kleinen Proteste auch außerhalb von München. Ich hatte das Gefühl, die Leute sind permanent auf der Straße, sogar solche, die vorher nie auf einer Demo waren. Ich glaube, dass die #ausgehetzt-Demo für viele ein Motivator war: Ich bin nicht alleine, sondern es gibt viele, die die Dinge genauso sehen wie ich. Dadurch entstand so etwas wie ein gesellschaftlicher Wahlkampf." (huf)
Die Umweltschützerin: „Hambi steht für mich für etwas Größeres“
Jana Mayer, 26, Studentin, Niedersachsen, lebt im Protest-Camp für den Erhalt des Hambacher Forsts: "Der Hambi muss bleiben. Der Wald, alle Tiere und Lebewesen, das einzigartige Ökosystem Hambacher Wald dürfen durch den Konzern RWE nicht weiter zerstört werden. Um das aufzuhalten, lebe ich in einem legalen Protest-Camp, dem Hambi-Camp. Wie hier mein Alltag aussieht? Abwechslungsreich. Oft bin ich im Wald unterwegs, derzeit baue ich an einem Baumhaus. Ich organisiere Bildungsangebote und Workshops. Für Menschen, die sich für unsere Bewegung interessieren, möchten wir vor Ort eine Anlaufstelle sein. Außerdem halte ich Kontakt zu den Menschen, die im nahe gelegenen Dorf leben. Morschenich liegt im zukünftigen Abbaugebiet des Tagebaus und ist von Umsiedlungen bedroht.
Der Hambi steht für etwas Größeres, für einen Systemwandel. Für mich ist der Forst ein Symbol für den Klimawandel und unsere Aufgabe, für mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen. Wir Menschen sind dabei, unsere Lebensgrundlage zu zerstören. Mit meinem Protest möchte ich zeigen, dass ich mit dem Raub an der Natur nicht einverstanden bin. Denn wir leben in einer Welt, in der Konzern- und Kapitalinteressen wie die von RWE an oberster Stelle stehen. Deshalb bin ich hier. In der Pflicht sehe ich alle – Politik, Industrie, die Individuen. Noch ist nicht entschieden, ob der Wald bleibt. Wir müssen widerständig bleiben." (elisa)
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Die Gelbweste: „Macron vertritt nicht meine Werte“
Yannick Pare, 53, Paris, Techniker in einem Krankenhaus, Teilnehmer der Gelbwesten-Demonstrationen: "Ich stelle mich zurzeit jeden Samstag mit einer gelben Warnweste auf den Platz der Republik in Paris, um zu zeigen, dass ich nicht einverstanden bin mit der Art und Weise, wie wir regiert werden. Unser System, in dem der Präsident im Alleingang handelt, ist am Ende. Man muss uns Bürgern mehr Macht geben. Emmanuel Macron hatte nie eine echte Legitimität: Nicht einmal 25 Prozent der Franzosen haben im ersten Gang der Präsidentschaftswahl für ihn gestimmt und in der zweiten Runde hat man den Leuten eingetrichtert, wenn sie nicht für ihn votieren, wird Marine Le Pen Präsidentin. Das ist politische Manipulation!
Ich selbst habe bei der Stichwahl einen leeren Stimmzettel abgegeben, denn Macron vertritt nicht die Werte, die mir wichtig sind. Er privatisiert Frankreich, indem er Staatseigentum verkauft und den Lobbys der Wirtschaft nachgibt. Mir persönlich geht es nicht um die erhöhte Steuer auf Benzinpreise, die die Gelbwesten-Bewegung ins Rollen gebracht hat, weil damit für viele Leute das Fass voll war. Aber mir ist eine bessere Organisation unserer Demokratie wichtig. Wir sind politisch, aber nicht im Sinne einer Partei. Wir wollen debattieren und zeigen, dass wir da sind. Natürlich bin ich gegen Gewalt. Aber die Polizei reagiert auch viel zu scharf, weil sie die Bewegung niederschlagen will. Das wird aber nicht gelingen: Wir sind standhaft." (biho)
Mehr über die Proteste in Frankreich: Wieder Gewalt bei "Gelbwesten"-Protesten in Frankreich
Die Unermüdliche: „Lobbyisten haben zu großen Einfluss“
Carola Eckstein, 45, Stuttgart, Mathematikern, ist Demonstrantin der ersten Stunde gegen Stuttgart 21: "Lobbyisten haben einen enormen Einfluss auf die Politik, die in unseren Parlamenten gemacht wird. Und auch die Parteiinteressen decken sich oft nicht mit den Interessen von uns Bürgern. Deshalb ist es wichtig, dass wir Bürger ein Gegengewicht schaffen; wir müssen aktiv dafür sorgen, dass die Interessen der Allgemeinheit nicht unter den Tisch fallen. Wie im Fall von Stuttgart 21 treffen Parlamente Entscheidungen oft auf Grundlage schöngerechneter Zahlen und ohne Rücksicht auf elementare Anforderungen wie Umwelt- und Klimaschutz.
Auch die Bedürfnisse der Bürger nach Mobilität, Sicherheit, einer lebenswerten Stadt und vieles mehr werden oft übergangen. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Egal ob es um die horrenden Kosten geht, den mangelhaften Brandschutz oder die zu geringe Leistungsfähigkeit: Die Stuttgarter sehen, dass Stuttgart 21 viele Nachteile und keine Vorteile bringt – und dass es sinnvolle, kostengünstige und sichere Alternativen wie das Konzept Umstieg 21 gibt. Die zuständigen Politiker haben offensichtlich andere Interessen. Deshalb ist der Protest wichtig. Fakten wie zu klein dimensionierte Fluchtwege werden nicht durch Abstimmungen aus der Welt geschafft. Auch wenn es mühsam und langwierig ist: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Interessen der Allgemeinheit in der Politik Gewicht bekommen." (huf)
Die Schülerin: „Alleine kann ich die Welt nicht verändern“
Annika Köhler, 16, Dießen am Ammersee, Schülerin, nimmt an den #FridaysforFuture-Protesten teil: "Der Umwelt zuliebe schwänze ich freitags die Schule. Das bedeutet nicht, dass ich während des Unterrichts alleine zu Hause auf der Couch sitze. Stattdessen fahren meine Mitschüler und ich zu Demonstrationen der Initiative #FridaysforFuture. Was ich mir vor allem wünsche, ist ein schneller Ausstieg aus der Kohle-Industrie. Schließlich haben wir dazu die nötigen erneuerbaren Energien.
Die Politik muss endlich erkennen, dass das Klima in allen Bereichen Priorität haben muss. Aber alleine kann man die Welt nicht verändern. Deshalb finde ich es wichtig, das Problem von mehreren Seiten anzugreifen. Wir protestieren also einerseits, damit uns die Politik wahrnimmt. Andererseits achten wir in der Schule darauf, die Umwelt zu schonen. Wir fahren kaum Auto oder benutzen Recyclingpapier. Ich zum Beispiel habe einen relativ langen Schulweg, für den ich mit dem Bus oft über eine Stunde benötige. Trotzdem nehme ich manchmal das Fahrrad. Dass unsere Demonstrationen an Freitagen stattfinden, ist gut. Auch wenn an diesem Wochentag vielleicht weniger Leute Zeit haben, bekommen wir doch mehr Aufmerksamkeit als bei Samstags-Kundgebungen. Dafür müssen wir allerdings den Unterricht schwänzen. Um nicht allzu viel zu verpassen, teilt sich meine Klasse auf: An einem Freitag streikt die eine Hälfte, am darauffolgenden die andere." (elisa)
Worum es bei den Protesten geht, lesen Sie hier: Tausende Schüler demonstrieren: Freitags geht es um die Zukunft
Die Unparteiische: „Man trifft viele Gleichgesinnte“
Julia Winkler, 26 Jahre, war Teilnehmerin und Mitwirkende der #unteilbar-Demonstration in Berlin: "In einer Partei ist in meinem Bekanntenkreis kaum mehr jemand aktiv. Ich auch nicht: Mich überzeugt keine Partei so richtig. Einfluss nehmen will ich trotzdem. Wir engagieren uns deshalb punktuell: für Themen, für Initiativen. Bei #unteilbar geht es darum, ganz unterschiedliche politische Belange sichtbar zu machen: Pflegenotstand, Wohnungsnot, Sexismus, Rassismus. Und diese Dinge dürfen auch nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Nur weil ich für einen stärkeren Sozialstaat bin, muss das ja nicht heißen, dass ich weniger geflüchtete Menschen aufnehmen will. Bei #unteilbar wollen wir uns gegenseitig ermutigen und wir wollen nach außen zeigen, dass wir viele sind. Denn statt über Probleme zu diskutieren, hat man nur noch über Proteste aus der rechten Szene gesprochen. Irgendwie machte sich so etwas wie Hoffnungslosigkeit breit: Wo sind denn die ganzen anderen, wo sind diejenigen, die genauso denken wie ich? Ereignisse wie die in Chemnitz haben mir und auch vielen meiner Freunde richtig Angst gemacht. Es gab so viele kritische Entwicklungen, die uns dazu gebracht haben, auf die Straße zu gehen. Das gab uns die Kraft, die Lethargie zu durchbrechen. Eine Demo alleine kann keine Probleme beseitigen. Es ist ein Schritt von vielen – und vor allem ist es eine Ermutigung. Man trifft Gleichgesinnte, erregt Aufmerksamkeit." (huf)
Der Beharrliche: „Es ist besser, als gar nichts zu tun“
Elton, 73, Rentner aus London, davor Bauingenieur, demonstriert gegen den bevorstehenden Brexit: "Seit vier Monaten komme ich einmal pro Woche vor das Parlament, um gegen den Brexit zu demonstrieren. Damals gab es einen Moment, als ich realisierte, dass Großbritannien diesen verrückten Weg einschlägt, dass es abwärts geht. Meiner Meinung nach hat mindestens die Hälfte der EU-Gegner mehr aus emotionalen Gründen für den Brexit gestimmt als aus Vernunft. Dabei verliert das Land so viel, wenn es die EU verlässt. In der Autoindustrie gibt es jetzt schon Stellenstreichungen. Dieses Muster wird weitergehen in allen Branchen, besonders bei unseren Finanzdienstleistungen.
Ich mag zwar die Haltung von Premierministerin Theresa May, etwa dass sie sehr fleißig ist, aber es scheint aussichtslos, dass sie sich offen gegenüber anderen Optionen zeigt als jener, den Brexit umzusetzen. Sie verschließt sich vor Alternativen, das mag ich nicht an ihr. Dabei weiß sie um die langfristigen Folgen. Ich komme zwar jede Woche mit meiner Frau für einige Stunden nach Westminster und ging auch bei den großen Demonstrationen auf die Straße, aber so wie die Dinge zurzeit stehen, glaube ich nicht, dass wir einen Unterschied machen. Aber ich habe das Gefühl, dass es das Einzige ist, was ich überhaupt noch machen kann. Natürlich würde ich mir wünschen, dass wir etwas erreichen mit unserer Präsenz, aber wir sind nicht genügend Leute. Auch wenn es vielleicht nicht sehr effizient ist, ist es doch besser, hier zu stehen als gar nichts zu tun." (kap)
Warum immer mehr Menschen demonstrieren, lesen Sie hier: Deutsche und der Protest: Und sie bewegen sich doch
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