Realist bis ins Letzte
Auch 26 Jahre nach seiner Ablösung als Bundeskanzler ist Helmut Schmidt einer der populärsten Staatsmänner. Der Kettenraucher wurde Anfang des Jahres zum "coolsten Deutschen" gekürt. Gelegentlich mischt er sich noch in die Tagespolitik ein. Von Rudi Wais
Berlin/Hamburg Das Amt kommt zu ihm - und nicht er zum Amt. Als Helmut Schmidt im Mai 1974 von Willy Brandts Rücktrittsplänen erfährt, kämpft er leidenschaftlich, aber aussichtslos.
Gut, Brandt hat den Spionageverdacht gegen seinen Mitarbeiter Günter Guillaume fahrlässig unterschätzt, er wirkt müde und depressiv, die Gerüchte über Frauengeschichten und Alkoholprobleme häufen sich. Aber deshalb gleich die Flinte ins Korn werfen? "Wegen dieser Lappalien", herrscht Schmidt ihn an, "kann ein Bundeskanzler sein Amt nicht aufgeben."
Wenige Tage später ist Helmut Schmidt selbst Kanzler, doch obwohl der Aufstieg des rhetorisch versierten und international anerkannten Finanzministers an die Spitze der sozialliberalen Koalition einer fast zwangsläufigen Logik zu folgen scheint, gesteht er Jahre danach: "Ich wollte dieses Amt nicht." Ja: "Ich hatte Angst davor."
Angemerkt haben ihm das selbst enge Freunde nicht. Im Gegenteil. Helmut Schmidt sei damals einfach reif gewesen für die Kanzlerschaft, erinnert sich Theo Sommer, der ihm kurze Zeit als Planungschef im Verteidigungsministerium diente und später Chefredakteur der Zeit wurde: "Auf der Weltbühne bewegte er sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie auf der Bonner Bühne. Dazu kamen sein eiserner Wille, strenge Selbstdisziplin und ein tiefes Pflichtgefühl."
Am Dienstag wird der Mann, der Deutschland sicher durch acht Jahre des Kalten Krieges, durch den Terrorherbst 1977 und die erste große Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit gesteuert hat, 90 Jahre alt. Die zweite große Krise hat gerade erst begonnen, und vermutlich ist der Rummel um Schmidts Geburtstag auch deshalb so groß, weil der Altkanzler genau jene Tugenden verkörpert, die die Deutschen heute bei ihrem Regierungspersonal vermissen: Führungsstärke, Gradlinigkeit, Entschlossenheit. In einer Zeit voller Krisen und Dramen, lobt der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, habe Schmidt "vorgemacht, wie man regiert".
Sein berühmtes Bonmot, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, empörte einst die Friedens- und Umweltbewegung. Heute ist es ein Synonym für politischen Pragmatismus. Einer seiner Biografen, Michael Schwelien, schreibt schon 2003 über den gebürtigen Hamburger: "Er war der fähigste und intelligenteste Kanzler, den die Bundesrepublik je hatte." Kein verletzlicher Romantiker wie Brandt, sondern kühler Realist.
Der Popularität des Altkanzlers tut das keinen Abbruch. Mit den Jahren, staunt nicht nur der Stern, sei aus dem zornigen Besserwisser Schmidt "ein weiser Greis" geworden. Bei einer Umfrage des Forsa-Instituts wird der kettenrauchende und Tabak schnupfende Staatsmann a. D. Anfang des Jahres gar zum "coolsten Deutschen" gewählt, vor dem Schauspieler Til Schweiger. Seine Bücher landen mit der Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut in den Bestsellerlisten - und seit der Schmidt-Fan Peer Steinbrück Finanzminister ist, mischt der Weltökonom aus dem Hamburger Arbeiterviertel Barmbek gelegentlich sogar wieder in der Tagespolitik mit.
Im August etwa, als Steinbrück Schmidt in seinem Ferienhaus am Brahmsee besucht und mit ihm über die heraufziehende Finanzkrise diskutiert, empfiehlt der Hausherr, die Banken strengeren "Verkehrsregeln" zu unterwerfen. Seitdem redet Steinbrück auffallend häufig von Verkehrsregeln.
1974, als Helmut Schmidt Kanzler wird, ist die Welt noch übersichtlich in Gut und Böse geteilt, in Ost und West und in Reich und Arm. Heute hängt alles mit allem zusammen, die Politik ist unberechenbarer geworden und begrenzter in ihren Möglichkeiten. Nur Schmidt schafft es noch immer, selbst komplizierteste Dinge auf einen für alle verständlichen Kern zu verdichten.
Einer Gruppe Jugendlicher etwa, mit der er vor kurzem in Hamburg diskutiert, entgegnet er knapp: "Einer der Gründe für die langen Studienzeiten ist die Unfähigkeit deutscher Professoren, ihre eigenen Universitäten betriebswirtschaftlich vernünftig zu organisieren." Auch das Desinteresse der jungen Menschen an der Politik stört ihn nicht wirklich: "Das ist keine Eigenart der heutigen Jugend. Das war zu meiner Zeit genauso. Da ist Fußball wichtiger als Politik."
Solche Sätze sitzen und haben ihm einst den Spitznamen "Schmidt-Schnauze" eingebracht. Die hanseatische Arroganz jedoch, die ihm ein Leben lang vorgeworfen wurde, ist einer verständnisvollen Altersmilde gewichen. Mit bald 90 Jahren, sagt Schmidt in einem Interview mit der Zeit, deren Mitherausgeber er nach seinem Abschied aus der Politik wurde, müsse ihm niemand mehr Gesundheit wünschen. "Wünschenswert ist Schmerzfreiheit."
Vor sechs Jahren hatte er einen schweren Herzinfarkt, er hört nur noch auf einem Ohr und auch das Gehen fällt ihm schwer. Geblieben aber sind ihm seine rasche Auffassungsgabe, sein wacher, scharfer Verstand - und die ungeteilte Bewunderung der Deutschen. Als Kanzler hatte Schmidt im Streit um die Stationierung amerikanischer Atomraketen die halbe Republik gegen sich, als Altkanzler ist er längst eine lebende Ikone. Selbst Gerhard Schröder, der ihm als Juso-Chef einst in herzlicher Feindschaft verbunden war, sagt inzwischen: "Mir imponiert Helmut Schmidt immer mehr, je älter ich werde."
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