Die Stimmung vor der Europawahl am Sonntag ist angespannt. Daran trägt die Politik eine Mitschuld. Es wird Zeit für eine Frischzellenkur.
Ein mulmiges Gefühl begleitet dieses Wochenende. Fast schon mantraartig wurde es deshalb in den vergangenen Wochen wiederholt, als ob man so die bösen Geister vertreiben könnte. Und deshalb soll die Beschwörungsformel an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden: Bei der Europawahl steht viel auf dem Spiel, wer die Zukunft des Kontinents mitgestalten möchte, muss am Sonntag zur Wahl gehen. Die EU ist zu wichtig, um sie den Bremsern und Europafeinden zu überlassen.
Die Begeisterung für die Europawahl wurde nicht geweckt
Leider ist es den Politikern in diesem eher untertourigen Wahlkampf nicht gelungen, die Begeisterung der Wähler zu wecken. Manfred Weber, Spitzenkandidat der Konservativen, ist nett, aber ansonsten unauffällig. Kanzlerin Merkel hat zwar ihre Sorge um diese Europäische Union bekundet, ansonsten aber wenig getan, um die Götterfunken sprühen zu lassen. Auch die SPD ist eher mit den eigenen Problemen als mit denen der EU beschäftigt. Mit durchschaubaren Manövern hat sie auf den letzten Metern versucht, noch ein paar Pflöcke einzurammen – doch die waren so morsch, dass sie von selbst zerbröselten. Das alles sagt mehr als alle mäßig motivierten Wahlkampfreden und Festansprachen. Und so sind es im Moment vor allem jene, die Brüssel einen Denkzettel mitgeben wollen, die sich für diese Wahl interessieren.
Dabei bräuchte das in die Jahre gekommene Projekt dringend eine Frischzellenkur. Die Briten stolpern mit jedem Tag dem ungeordneten Brexit ein bisschen näher. Die Rechtspopulisten beweisen, dass es ihnen nicht um das Wohl der Gemeinschaft, sondern um persönliche Abrechnungen geht. Die Flüchtlingskrise ist noch lange nicht ausgestanden. Der Handelskonflikt mit den USA ist unberechenbar geworden. Die Jugend will sich nicht länger mit lauwarmen Klimakonzepten abspeisen lassen. Es reicht, wenn die Politik verzagt ist – wir Bürger sollten am Sonntag unsere Stimme erheben. Denn selbst wenn Europa für viele Menschen offenbar kein Herzensanliegen mehr ist, so gebietet es doch die Vernunft, die politische Institution zu stützen, die uns Wohlstand und Frieden sichert.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben Spuren in Europa hinterlassen
Wer Europa schlechtredet, verkennt die Wirklichkeit. Wer für sich selbst die Erfolge einheimsen will und den Bürokraten in Brüssel die Schuld an Misserfolgen gibt, sagt nur die halbe Wahrheit – und die ist auch nicht besser als eine Lüge. An der historischen Leistung der Europäischen Union gibt es nichts kleinzureden, nichts zu relativieren. Es ist traurig, dass man inzwischen für europaskeptische Parolen mehr Applaus einfahren kann als für mutige Vorschläge, die in eine gemeinsame Zukunft weisen.
Über so vieles muss sich Europa klar werden: Wollen wir eine gemeinsame Sicherheitspolitik? Wie geht es in den vermurksten Beziehungen mit dem Autokraten am Bosporus weiter? Welche Antworten hat man auf die Frechheiten aus dem Weißen Haus parat? Aber auch: Wie kann Europa endlich wieder eine wirtschaftliche und innovative Führungsrolle übernehmen? Welche Ideen haben wir in der drängenden Frage des Umweltschutzes? Europa muss Vorreiter sein, anstatt unter lautem Wehklagen die eigenen Befindlichkeiten zu bejammern.
Natürlich ist all das leichter gesagt als getan. Die Krisen der vergangenen Jahre haben tiefe Spuren hinterlassen: Finanzkrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise. Irgendwas war immer. Die Politik musste vor allem Löcher stopfen und kam viel zu selten dazu, gemeinsame Visionen auszuarbeiten. Doch nun ist der richtige Zeitpunkt. Vielleicht ist die Angst vor einem politischen Beben ja ein Weckruf. Ein Anlass zur Selbstbesinnung sollte sie auf jeden Fall sein.
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