So sieht die Flucht über die Balkanroute heute aus
Trotz des Türkei-Deals fliehen noch immer tausende Menschen über den Balkan. Vor den Grenzen herrschen Staus und katastrophale Lebensbedingungen.
Als der Jugoslawienkrieg die Regionen Bosnien und Herzegowina erfasste, wurde der Ort Bihac im Nordwesten des heutigen Landes zu einem Symbol für die entfesselte Gewalt auf der Balkanhalbinsel: Panzer nahmen die muslimische Enklave ins Visier, Brandbomben prasselten auf Wohnviertel nieder und Scharfschützen legten aus dem hügeligen Umland auf Kämpfer und Flüchtlinge an. Drei Jahre dauerte die Belagerung Bihacs an, mehrfach drohte die Region in humanitären Katastrophen zu versinken.
25 Jahre später hat sich die Stadt am Fluss Una wieder in ein beschauliches Provinznest verwandelt. Es gibt Kirchen und Moscheen, im Sommer fand ein Musikfestival statt, der örtliche Fußballklub kickt immerhin in der zweithöchsten Liga. Am Horizont ist das knapp 20 Kilometer entfernte Kroatien zu sehen. Das Leben der 60000 Einwohner Bihacs verläuft in geregelten Bahnen – doch unter der Oberfläche ist die konflikterprobte Grenzstadt wieder zum Schauplatz einer Krise geworden. Sie spielt sich am Stadtrand ab, der fließend in weitläufige Wälder übergeht.
Auf einer Lichtung steht ein dreistöckiges, baufälliges Gemäuer aus roten und grauen Backsteinen. Wo einst Fenster waren, klaffen riesige Löcher in den Wänden, von denen im Laufe der Jahre der Putz restlos abgebröckelt ist. In dem modrigen Betongerippe, das vor Jahren als Wohnheim für Studenten diente, leben heute mehrere hundert Flüchtlinge. Die meisten von ihnen sind junge Männer aus Syrien und Afghanistan. Mit Plastikplanen schützen sie sich vor Wind und Wetter, nachts breiten sie auf dem Steinboden ein paar Decken und Kissen aus. Im Erdgeschoß steht ein knappes Dutzend Stockbetten. Die Ruine in Bihac ist eines von mehreren Dauerprovisorien entlang der Grenze zu Kroatien, in denen nach Angaben des Roten Kreuzes durchgehend etwa 6000 Menschen leben. Allein am Waldrand von Bihac sind es über 1000.
Zwei Augsburger berichten aus Bosnien
Johann Keppeler und Günther Geiger haben, wie sie selbst sagen, schon einiges gesehen. Die beiden Pensionäre sind seit 50 Jahren beim Bayerischen Roten Kreuz in Augsburg und engagieren sich dort ehrenamtlich in der internationalen Hilfe. Einsätze nach Naturkatastrophen, Seuchenausbrüchen und Bürgerkriegen haben sie schon in fast alle Erdteile geführt. „Die Zustände in Bihac und den umliegenden Camps sind absolut menschenunwürdig“, erzählt Geiger. Gemeinsam mit Keppeler reiste er im Oktober nach Bihac, als die Kollegen aus Bosnien und Herzegowina um Hilfe aus der europäischen Nachbarschaft gebeten hatten, weil die Situation zunehmend aus dem Ruder laufe.
Wie Geiger berichtet, hat sich um das baufällige Gebäude inzwischen ein Zeltlager gebildet, wegen der schlechten Hygiene sei auf dem ganzen Gelände die Krätze ausgebrochen. Einmal am Tag stehen die Bewohner der Unterkunft für eine warme Mahlzeit ein. Kleinere Streitereien und Handgemenge unter den Flüchtlingen sind laut Geiger und Keppeler an der Tagesordnung, immer wieder müsse die Polizei einschreiten. „Die Nerven liegen bei vielen blank“, sagt Keppeler.
Die meisten Neuankömmlinge bleiben nur für ein paar Tage in Bihac. Viele von ihnen schließen sich zu Grüppchen zusammen, bereiten auf kleinen Lagerfeuern ihren Reiseproviant zu und machen sich wieder auf den Weg. Denn auf dem Balkan zu bleiben hatten sie nie vor – das eigentliche Ziel ist Zentraleuropa. Täglich packen Dutzende ihre Sachen und kehren den maroden Notunterkünften den Rücken. „So gut wie jeder, mit dem wir gesprochen haben, hat uns angefleht, wir sollen ihn nach Deutschland mitnehmen“, erzählt Johann Keppeler.
Die Balkanroute ist der neue, alte Weg
Im Jahr 2015 flohen über eine Million Menschen über den Balkan. Nach dem Flüchtlingspakt der Bundesregierung mit der Türkei ebbte der Strom massiv ab und wurde im öffentlichen Bewusstsein der zentraleuropäischen Staaten durch die Flucht über das Mittelmeer verdrängt. „Aber die Grenzen sind trotz strengerer Kontrollen noch immer relativ durchlässig“, sagt Keppeler. Das deutsche Bundesinnenministerium kommt zum selben Schluss. Nach dessen Informationen nimmt die Grenzpolizei in Bosnien-Herzegowina derzeit täglich rund 150 Flüchtlinge auf. Gegenüber dem Vorjahr habe sich dieser Wert um rund das Zwölffache erhöht. Das Ministerium spricht im Zusammenhang mit dem Balkan von einem „Brennpunkt der illegalen Migration“. Denn auch in Montenegro und Albanien sind Anstiege zu beobachten. „An nahezu allen Grenzabschnitten der Westbalkanstaaten werden illegale Grenzübertritte – insbesondere seit Jahresbeginn 2018 – mit steigender Tendenz festgestellt“, heißt es in einer Mitteilung aus dem Innenministerium.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration IOM wurden in Deutschland im ersten Halbjahr 2018 rund 78000 Asylanträge gestellt. Wie viele dieser Menschen über den Balkan gekommen sind, ist nicht zuverlässig zu beziffern – offiziell gilt die Balkanroute ja als geschlossen. Laut IOM spaltet sich der Flüchtlingsstrom jedoch in Istanbul in zwei Hauptrouten. Während die meisten Migranten den direkteren, aber gefährlicheren Weg über den Grenzfluss Evros nach Griechenland einschlagen, gelangen andere über Bulgarien und Serbien nach Bosnien, wo sie in den Unterkünften der Hauptstadt Sarajevo wieder auf die Reisenden aus Griechenland und Albanien treffen. Auf dem Weg Richtung Norden sind die Lager in Bihac und Umgebung unumgängliche Zwischenstationen. Doch auch in Kroatien werden die Hürden nicht niedriger: Der Weg nach Slowenien führt über den Fluss Kolpa, in dem nach Angaben des IOM allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres sieben Flüchtlinge ertranken.
Seit dem Türkei-Deal sitzen die Menschen fest
Von Sarajevo aus beobachtet Neven Crvenkovic vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR die Entwicklung. Die Organisation ist an der Nordgrenze Bosniens im Einsatz und setzt sich für eine bessere Infrastruktur für Flüchtlinge ein. „Zu Beginn der Krise lief in den Balkanstaaten nichts anderes als ein organisierter Transit nach Europa ab“, sagt Crvenkovic. Der sogenannte Türkei-Deal, das von der Bundesregierung angestoßene Flüchtlingsabkommen vom März 2013, habe das schlagartig geändert. Denn seitdem Länder wie Deutschland weniger Flüchtlinge aufnähmen, sammelten sich entlang der Balkanroute gestrandete Menschen, die von Nordgrenze zu Nordgrenze gelangen wollen. „Viele derer, die jetzt in Bihac ankommen, befinden sich schon seit Monaten auf der Flucht und saßen davor lange woanders fest“, erklärt der UNHCR-Sprecher. Aus humanitärer Sicht sei der Türkei-Deal daher ein gescheitertes Abkommen. „Die gesetzlichen Regularien ändern nichts an den Beweggründen der Flüchtlinge“, sagt Crvenkovic.
Von Bosnien nach Slowenien, das anders als Kroatien zum Schengen-Raum gehört, ist es noch ein großer Sprung. Die Grenzkontrollen Kroatiens gelten als streng. Von Bihac aus konnten die Augsburger Rotes-Kreuz-Mitarbeiter Günther Geiger und Johann Keppeler kroatische Polizeipatrouillen am Waldrand auf- und abfahren sehen. In den Wäldern, in denen mit Schildern vor Landminen aus dem Bosnienkrieg gewarnt wird, findet täglich ein Katz-und-Maus-Spiel statt. Wer erwischt wird, muss umdrehen: Täglich kehren frustrierte junge Männer von gescheiterten Weiterreiseversuchen zum ehemaligen Studentenwohnheim in Bihac zurück.
Aus Augsburg ist ein Hilfskonvoi unterwegs
Seit Wochen werden die Tage kürzer, die Nächte kälter. „Im November starten wir von Augsburg aus einen Hilfskonvoi mit neuen Feldküchen, sanitären Anlagen und Bedarfsgütern“, sagt Günther Geiger, der viele Jahre Geschäftsführer des Roten Kreuzes in Augsburg war. Es fehle in Bihac an allem, vor allem aber an organisierten Strukturen. „Alles dort wird von nicht-staatlichen Organisationen gestemmt“, sagt Geiger. Die UNHCR konnte jedoch kürzlich einen Erfolg erringen: Ein ehemaliges Fabrikgelände in der Stadt wird für den Winter als zusätzliche Unterkunft vorbereitet. Dort soll es immerhin windgeschützt sein. An der Gesamtsituation wird sich in absehbarer Zeit jedoch nichts ändern.
„Bemerkenswert ist für uns der Rückhalt aus der Bevölkerung“, sagt Neven Crvenkovic vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Die meisten Menschen in den Balkanstaaten stünden den Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Irak und Syrien wohlwollend gegenüber. Viele der Stadtbewohner spenden das, was sie entbehren können – den meisten Familien stehen monatlich nur einige hundert Euro zur Verfügung. In Bihac habe es sogar schon Demonstrationen für menschenwürdigere Bedingungen für die Bewohner der Ruine gegeben. „Ich vermute, dass man sich hier noch sehr gut an die Situation vor 25 Jahren erinnern kann“, sagt Crvenkovic. „Viele Bosnier erkennen sich in den heutigen Flüchtlingen wieder.“
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