Wie politisch ist „Squid Game“ wirklich?
Umstritten, spannend und brutal: Nicht alle erkennen bei "Squid Game" sofort die Gesellschaftskritik an Südkorea. Was hinter der Serie und ihrem Erfolg steckt.
Als am Samstagabend Dunkelheit über Itaewon einbrach, dem Ausgehviertel der südkoreanischen Hauptstadt, zeigte sich das exzessive Nachtleben der Metropole erstmals wie vor der Pandemie. Zehntausende junge Menschen bevölkerten die engen Gassen, um in Irish Pubs und Nachtclubs „Halloween“ zu feiern. Dominierten in den letzten Jahren noch Krankenschwester-Kostüme und Vampir-Masken das Straßenbild, schienen diesmal die meisten Partygänger direkt aus dem Filmset von „Squid Game“ zu entstammen: die Männer als rote Gefängniswärter mit schwarzen Masken und umgehängten Maschinenpistolen, die Frauen als gelb-orange gekleidete Grusel-Puppen.
Südkoreas Gewerkschaftsbund protestiert mit "Squid Game"-Masken
Kein Wunder, dass sich die Serie auch im Alltag der koreanischen Hauptstadt niederschlägt: Die Serie ist mit rund 150 Millionen Zuschauern der bislang größte Erfolg des Streaming-Giganten Netflix, fünf Millionen neue Zuschauer soll „Squid Game“ dem US-Unternehmen gebracht haben. Erfunden und produziert wurde die Gesellschaftssatire nicht zufällig in Südkorea.
Künstlerisch gesprochen entwarf Autor und Regisseur Hwang Dong-hyuk eine sogenannte Dystopie – das düstere Gegenstück der Utopie. Politisch traf er den Nerv seines Heimatlandes, dass in Südkorea bereist tausende Gewerkschaftsmitglieder in „Squid-Game“-Kostümen gegen schlechte Arbeitsbedingungen, Billiglöhne und Turbokapitalismus demonstriert haben.
Der Plot von „Squid Game“ ist schnell nacherzählt: Die Serie handelt von knapp 500 Menschen, die zwar aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Hintergründen stammen, sich aber allesamt hoch verschuldet haben. Sie treten in neun Folgen bei scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander an, um dort Preisgelder in Millionenhöhe zu gewinnen – und von ihren finanziellen Nöten erlöst zu werden. Doch der makabre Wettbewerb duldet keine zweite Chance: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird umgehend getötet – und die Leiche zur Organgewinnung weiterverarbeitet.
"Squid Game": Anklage der Ellbogengesellschaf trifft Zeitgeist
Wie sehr die Allegorie auf Sozialdarwinismus und Ellbogengesellschaft den universalen Zeitgeist trifft, lässt sich an den internationalen Reaktionen ablesen. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien meldet der Online-Sprachdienst „Duolingo“ einen plötzlichen Boom an Koreanisch-Kursen. Von Belgien bis Deutschland imitieren Schüler auf Pausenhöfen die Spiele aus der Serie. In China, dessen Internetzensur „Squid Game“ bisher gesperrt hat, wurde die Internet-Piraterie auf illegalen Streaming-Seiten zu einem derart großen Problem, dass sich zuletzt sogar Südkoreas Botschafter in Peking zu Wort gemeldet hat. Und selbst Nordkorea konnte angesichts des weltweiten Erfolgs nicht länger schweigen: Die Serie würde beweisen, dass Südkoreas Gesellschaft „infiziert“ sei von „Korruption, Sittenlosigkeit und dem Überleben des Stärkeren“, schreibt die Staatspropaganda.
Wenn man die Serie als realistisches Porträt einer Gesellschaft lesen würde, dann träfe eine solche Kritik durchaus zu. Man schaue nur einmal auf Seong Gi-hun, den spielsüchtigen Protagonisten von „Squid Game“, der in einer heruntergekommenen Kellerwohnung im Norden Seouls wohnt: Er hat seine Arbeitsstelle verloren, wurde von seiner Frau verlassen und hat kaum Erspartes, um sich und seine Tochter zu kümmern. Mit seinem Schicksal sieht er keine andere Wahl: Er muss beim Todesspiel mitmachen, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Natürlich ist die Handlung nur als Metapher auf den sozialen Überlebenskampf zu verstehen. Doch dieser wird in der Tat in Südkorea deutlich härter ausgetragen als in europäischen Wohlfahrtsstaaten Europas.
"Squid Game"-Hintergrund: Südkorea hat höchste Selbstmordrate
Südkorea war nach dem Koreakrieg (1950-53) eines der ärmsten Länder der Welt, das Bruttoinlandsprodukt vergleichbar mit Ghana. In nur einer Generation schuftete sich die Bevölkerung des ostasiatischen Tigerstaats unter unglaublicher Aufopferung zu Wohlstand und nationalem Selbstbewusstsein: Südkorea hat mittlerweile das zehntgrößte Bruttoinlandsprodukt aller Staaten der Welt. Doch der vielleicht rasanteste Wirtschaftsaufstieg des 21. Jahrhunderts hat viele gesellschaftliche Narben hinterlassen: Wachsende Ungleichheit, fehlende soziale Absicherung, hohe Haushaltsschulden, Konformitätszwang und ein ungemeiner Leistungsdruck sind nach wie vor verantwortlich dafür, dass das Land seit der Jahrtausendwende fast durchgängig die höchste Suizidrate aller OECD-Länder aufweist.
Zudem kennt Südkorea keine Gesellschaft, die zweite Chancen zulässt: Wer sich im Wettkampf um die begehrten Universitätsplätze durchsetzen kann, dem winkt ein gut bezahlter Arbeitsplatz bei den großen Mischkonzernen á la Samsung und Hyundai. Der große Rest hingegen profitiert oft kaum vom neugewonnenen Wohlstand des Landes. Lange Jahre versuchte die Unterhaltungsindustrie die sozialen Übel in kitschigen Romanzen und albernen Komödien unter den Teppich zu kehren.
Südkoreas Medien sehen in „Squid Game“ Kommentar zu realen Vorfällen
Doch längst stellt sich die konfuzianisch geprägte Gesellschaft immer mehr den eigenen Problemen, wie sie allesamt in „Squid Game“ widergespiegelt werden. „Ein Grund, warum das rekordverdächtige Hit-Drama von Netflix bei so vielen Menschen Anklang fand, ist, dass es auch ein sozialer Kommentar zu realen Vorfällen in Korea ist“, schreibt die Tageszeitung Korea Herald. In einem Interview sagte der 50-jährige Regisseur Hwang Dong-hyuk, dass er das „Überlebensspiel als eine Metapher, eine Parabel für die moderne kapitalistische Gesellschaft“ darstellen wollte.
Dem Serienerfinder und dem Produzenten Netflix kommt allerdings auch zugute, dass die Regierung in Seoul seit Ende der neunziger Jahre gezielt den Kulturexport als wirtschaftliche Wachstumsbranche fördert. Der Erfolg des südkoreanischen „K-Pop“ und der „K-Dramas“ entsprang der Asienkrise Ende der neunziger Jahre, als das Land am Han-Fluss von Massenarbeitslosigkeit und stagnierenden Exporten tief getroffen wurde. „Hätte es keine Krise gegeben, wäre es wohl nie zur koreanischen Welle gekommen“, schreibt die Autorin Euny Hong in ihrem vielbeachteten Buch „The Birth Of Korean Cool“.
Als Lösung stieß der 1998 gewählte Präsident Kim Dae-jung einen Prozess an, den Autorin Euny Hong als „wohl größte nationale Image-Kampagne in der Weltgeschichte“ beschreibt. Das immer noch recht abgeschottete Land der Morgenstille solle künftig der globalen Gemeinschaft beitreten - und die Popkultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustragen.
"Squid Game" profitiert von Südkoreas Kulturexport-Förderung
Rückblickend war es ein Geniestreich, in den Kulturexport einzusteigen. Südkorea verfügt über kaum nennenswerte natürliche Ressourcen, dafür aber über eine extrem gebildete, krisenerfahrene und wandlungsfähige Bevölkerung. Doch gleichzeitig hatte man mit einem ernsthaften Image-Problem zu kämpfen. Im Ausland verbanden die Leute Korea mit emsigen Samsung-Angestellten, aber keinesfalls mit hippen Popikonen.
Erstmals sorgten schließlich koreanische Arthouse-Regisseure wie Park Chan-wook („Old Boy“), Bong Joon-ho („the Host“) und Kim Ki-duk („Seom - die Insel“) beim europäischem Publikum für Respekt. In Asien hingegen kamen vor allem der zuckersüße Pop der „Girls Generation“ gut an, auch die kitschigen Seifenopern liefen schon bald im Hauptabendprogramm. Den tatsächlichen Durchbruch der koreanischen Welle schafften spätestens BTS: Die Boyband gilt weltweit als erfolgreichste seiner Art.
Die neu gewonnene Soft Power hat das Stadtbild von Seoul verändert. Das Hongik-Universitätsviertel und die Ausgangmeile Itaewon sind längst voll von europäischen Austauschstudentinnen und jungen Kreativen, die es aufgrund der Faszination für koreanische Popmusik, Modedesign und Fernsehserien nach Ostasien gezogen hat. „Squid Game“ reitet ebenfalls nun auf dieser koreanischen Welle und beweist das Kunststück, dass Südkorea nicht nur mit Plastikpop und seichter Unterhaltung erfolgreich ist, sondern auch mit beißender und vor allem selbstkritischen Gesellschaftssatire.
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