
Das Finale
Der jahrelange Streit über den Umbau des Hauptbahnhofs und den Neubau der Strecke Wendlingen–Ulm könnte mit der Volksabstimmung am Sonntag enden. Doch genauso gut könnte er in eine weitere Runde gehen. Alles scheint möglich
Stuttgart Als Finale in Sachen Stuttgart 21 bezeichnet Bahnchef Rüdiger Grube die Volksabstimmung am Sonntag. Von einem Schlussstrich spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die Sehnsucht nach Frieden rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof ist so ziemlich das Einzige, was den Manager und den Grünen im Streit um das Milliardenprojekt eint. Doch je nachdem, welches Ergebnis unter dem Referendum steht, könnte diese Hoffnung trügerisch sein. Der Streit um den geplanten Tunnelbahnhof war einer der Gründe, warum die CDU im März 2011 nach fast 60 Jahren in Baden-Württemberg die Macht verloren hat. Und nun ist das Thema der Knackpunkt schlechthin der grün-roten Landesregierung.
Sogar das Erstellen einer offiziellen Infobroschüre wurde zum Politikum. Bisher war die Aussicht auf die Volksabstimmung der Kitt zwischen den Partnern. Wenn das Resultat aber erst einmal vorliegt, werden sich neue Fragen stellen. Siegen die S-21-Befürworter? Wie kann Winfried Hermann als grüner Verkehrsminister den Bau eines Projektes begleiten, das er jahrelang intensiv bekämpft hat? Packen die Gegner die hohe Beteiligungshürde und gewinnen? Wie sehr lähmen die zu erwartenden Entschädigungsprozesse um Hunderte Millionen Euro die Regierung? Zerreißt es die Grünen, wenn eine Mehrheit für den Ausstieg stimmt, aber das Quorum das Kündigungsgesetz verhindert?
Speziell vom Ergebnis in Stuttgart wird nicht nur die Stärke des künftigen Protests abhängig sein, sondern möglicherweise auch die Zukunft von Wolfgang Schuster. Der CDU-Oberbürgermeister dürfte es auch davon abhängig machen, ob er sich 2012 noch einmal zur Wahl stellt.
Stuttgart 21 ist vor allem seit dem Jahr 2010, als Zehntausende gegen das Vorhaben demonstrierten, für viele zu einem Glaubenskampf geworden. Bei all den Diskussionen um Glaubwürdigkeit von Politik, Bürgerbeteiligung, Kostenentwicklung und Investitionssicherheit droht die Frage, worum es überhaupt geht, leicht in den Hintergrund zu geraten.
Deshalb noch einmal ein Blick auf das Objekt des Streits, der sich um zwei bisher eng miteinander verknüpfte Bahnprojekte dreht: die Neuordnung des Stuttgarter Bahnknotens und die Intercity-Trasse von Wendlingen nach Ulm. Sieben Milliarden Euro sollen laut Bahn die beiden Vorhaben kosten. Über die 60 Kilometer lange Schnellbahnstrecke entlang der Autobahn8 wird zwar nicht abgestimmt. Aber die Meinungen gehen auseinander, ob das 2,9 Milliarden Euro teure Vorhaben auch kommt, falls der Tunnelbahnhof nicht gebaut wird. S-21-Befürworter, Bahnchef Grube und Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) bezeichnen die beiden Projekte als untrennbar. Gegner verweisen auf die durch im Bundeshaushalt abgesicherte Finanzierung der Trasse.
Kernpunkt des Streits und des Referendums ist allerdings die geplante Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in den Untergrund. Aus einem 16-gleisigen Kopfbahnhof soll ein um 90 Grad gedrehter, achtgleisiger Durchgangsbahnhof werden. Die Konstruktion gilt unter den Befürwortern als Kathedrale des Fortschritts. Für die Kritiker ist das Projekt größenwahnsinnig, nicht funktional und sogar gefährlich. Sie wollen lieber den alten Bahnhof behalten, modernisieren und über zusätzliche Gleise im Neckartal statt durch Tunnel an die ICE-Trasse nach Ulm anschließen.
Der Südflügel des Bahnhofs soll Anfang 2012 abgerissen werden
Der Nordflügel des 1918 fertiggestellten Hauptbahnhofs ist bereits abgerissen, der Südflügel soll Anfang kommenden Jahres folgen – ein Nein der Baden-Württemberger zum Ausstieg vorausgesetzt. Der Haupttrakt bleibt stehen. Die Emotionen drohen vor allem dann abermals überzukochen, wenn im Schlosspark für die riesige Baugrube Bäume fallen oder mit Millionenaufwand verpflanzt werden. Zuvor müsste das Camp geräumt werden, in dem mehrere Dutzend Aktivisten zelten. Grün-Rot zittert schon jetzt vor den Bildern von dem Polizeieinsatz, den nun nicht wie am 30. September 2010 die CDU-Leute Stefan Mappus und Heribert Rech, sondern der Grüne Winfried Kretschmann und SPD-Innenminister Reinhold Gall zu verantworten hätten.
Die Projektgegner besänftigt auch nicht die Aussicht, dass durch S21 der Park erweitert werden und der Baumbestand sogar größer werden soll. Weil auf der jetzigen Gleisfläche vor dem Hauptbahnhof ein neues Stadtviertel geplant ist, sehen sie das Vorhaben als Werk verantwortungsloser Immobilienspekulanten. S21 geht noch weit über die unmittelbare Umgebung des Bahnhofs hinaus: Gebaut werden sollen Zulaufstrecken und ein Gleisring mit 58 Kilometern, davon 30 in Tunnels. Dazu kommen zwei weitere neue Bahnhöfe – ein ICE-Halt am Stuttgarter Flughafen sowie eine zusätzliche S-Bahn-Station.
Die Befürworter loben die neuen Möglichkeiten, für die Gegner ist das System vor allem zu teuer. Schließlich sind die von der Bahn genannten Kosten binnen sieben Jahren von 2,5 auf 4,1 Milliarden Euro gestiegen. Der Schienenkonzern selbst steuert 1,7 Milliarden Euro bei, der Bund 1,2 Milliarden und das Land 930 Millionen; den Rest teilen sich Stadt, Region und Flughafen Stuttgart. Nicht geklärt ist, was passiert, wenn die Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro durchstoßen wird. Dann tritt eine Klausel in Kraft, die nur besagt, dass die Projektpartner über die Aufteilung der Mehrausgaben reden.
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