Anschlag auf Zug nach Paris: "Ohne Spencer wären wir alle tot"
Fünf Fahrgäste aus den USA und Großbritannien stoppten einen Marokkaner, der in einem Thalys-Schnellzug das Feuer eröffnete. Der Täter hatte Verbindungen zur Islamisten-Szene.
Entsetzen und Erleichterung zugleich – das empfanden die Passagiere des Thalys-Schnellzugs von Amsterdam nach Paris, in dem am Freitagabend wohl ein Blutbad verhindert wurde. „Erst jetzt beginne ich zu realisieren, was für einer Katastrophe wir entgangen sind“, sagte der Brite Chris Norman tags darauf. „Ich will einfach nur nach Hause.“ Dabei werden Norman und vier weitere Fahrgäste, unter ihnen zwei US-Soldaten auf Europa-Urlaub, als Helden gefeiert, da sie den Angreifer überwältigten und durch Mut und Geistesgegenwart Schlimmeres abwenden konnten.
Neben einer Kalaschnikow hatte der Täter neun Magazine, eine automatische Pistole und ein Teppichmesser bei sich. Drei Menschen verletzte er, aber keinen lebensgefährlich. Der Zug, in dem sich 544 Passagiere befanden, hielt nach einer Umleitung im nordfranzösischen Arras. Dort wurden die geschockten Menschen versorgt, während die Polizei den jungen Angreifer festnahm. Den „Helden von Arras“ überreichte das Rathaus die Medaille der Stadt.
Nachdem der belgische Premierminister Charles Michel schnell von einer „terroristischen Attacke“ sprach, erklärte auch der französische Innenminister Bernard Cazeneuve, dass der Angreifer einer „radikalen islamistischen Bewegung“ angehöre. Neben den belgischen Behörden hat die für Terrorismus zuständige Pariser Staatsanwaltschaft die Ermittlungen übernommen und verhört den Täter, den 25-jährigen Marokkaner Ayoub El Khazzani.
Verbindungen zur Islamisten-Szene
Medienberichten zufolge leugnet er terroristische Absichten. Vielmehr hat er ausgesagt, er habe in einem Brüsseler Park, wo er schlafe, die Waffen in einem Koffer gefunden und wollte mit einer Geiselnahme Geld erpressen. Den französischen, belgischen und spanischen Behörden ist er allerdings aufgrund seiner Verbindungen zur Islamisten-Szene und als Syrien-Heimkehrer bekannt. Auch war er in Spanien, wo er zeitweise lebte, wegen Drogenschmuggels inhaftiert. Offenbar soll El Khazzani am 10. Mai über Berlin in die Türkei gereist sein und könnte sich an den Kämpfen des Islamischen Staates (IS) beteiligt haben. Am 26. Mai traf er nach Angaben spanischer Behörden wieder in Belgien ein. Die Untersuchung solle nun „sehr genau den Werdegang und die Bewegungen dieses Terroristen nachvollziehen“, versprach Cazeneuve.
Die Vorgänge im Zug hingegen sind inzwischen rekonstruiert, auch gibt es Handy-Fotos und -Videos von dem spektakulär abgewehrten Angriff. Demnach versuchte zunächst ein junger Franzose, El Khazzani zu stoppen, als dieser mit nacktem Oberkörper und schwer bewaffnet aus einer Zugtoilette kam. Doch er entkam, eröffnete das Feuer und verletzte dabei einen Mann. Daraufhin reagierten der Brite Norman und drei US-Amerikaner sehr schnell. „Wir haben einen Schuss und splitterndes Glas gehört“, erzählte einer von ihnen, Alek Skarlatos, in einem Interview. Der 22-Jährige ist ein nicht aktives Mitglied der Nationalgarde, war aber im Juli im Einsatz in Afghanistan. Sie hätten sich auf den Angreifer gestürzt, ohne zu wissen, ob seine Waffe noch funktioniert, berichtete er: Sein Freund Spencer Stone, ebenfalls Mitglied der US-Streitkräfte, sei einfach auf ihn zugelaufen: „Wenn jemand erschossen worden wäre, dann wäre das sicher er gewesen.“ Sie warfen El Khazzani zu Boden, entwanden ihm gemeinsam mit einem dritten Freund, dem Studenten Anthony Sandler, und dem Briten Norman die Waffe und schlugen ihn bewusstlos. Vorher verletzte der Marokkaner im Handgemenge Stone mit einem Teppichmesser am Nacken und am Daumen. „Natürlich hatte ich Angst, aber das Adrenalin nahm überhand“, sagte Skarlatos. „Es ging alles so schnell, wie in einem Traum.“
Vorwürfe gegen das Bordpersonal
Einer der Passagiere, der französische Schauspieler Jean-Hugues Anglade, erhob schwere Vorwürfe gegen das Bordpersonal: Es habe sich in einem speziellen Abteil eingeschlossen und die Passagiere mit dem Attentäter alleine gelassen. Auch auf die verzweifelten Rufe der Fahrgäste habe niemand reagiert. Thalys-Geschäftsführerin Agnès Ogier wies die Anschuldigungen zurück: Nachdem er von einem Schuss gestreift wurde, sei ein Mitarbeiter mit weiteren Reisenden in den Gepäckraum am Ende des Zuges geflohen. Dort habe er nach Vorschrift den Alarm ausgelöst und seine Kollegen alarmiert, ein weiterer Zugmanager ging daraufhin durch die Abteile. „Das Bordpersonal hat seine Aufgaben erfüllt“, so Ogier.
Während US-Präsident Barack Obama die „heldenhafte Tat“ der Passagiere und ihren „außergewöhnlichen Mut“ lobte, wird sie der französische Präsident François Hollande am heutigen Montag im Élysée-Palast empfangen. „Alles wird getan, um Licht in dieses Drama zu bringen“, versprach er. Seit den terroristischen Attentaten in Paris auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar herrscht in Frankreich immer noch höchste Terror-Warnstufe. Nun wurde angekündigt, dass insbesondere in den Thalys-Zügen die Kontrollen deutlich verstärkt würden. Denn dass Passagiere wie Spencer Stone mitreisen und spontan eingreifen, dürfte die Ausnahme sein. „Ohne ihn wären wir alle tot“, versichert Chris Norman.
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