Massenmord mit Marschmusik
Der Attentäter von Christchurch überträgt den Amoklauf in einer Moschee mit seiner Helmkamera live ins Internet, als wäre es ein Ballerspiel. Dutzende Menschen sterben. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand. Wie eine Allgäuer Reisegruppe gerade noch ihr Hotel erreicht
Die Al-Nur-Moschee von Christchurch ist kein Gebäude, das besonders auffällt. Ein zweckmäßiger Bau in Weiß, direkt am Hagley-Park, mit goldener Kuppel, Minarett und großem Parkplatz davor. Auch wenn Muslime in Neuseeland sehr in der Minderheit sind: An die Moschee in der ruhigen Deans Avenue hat man sich in der 350000-Einwohner-Stadt schon lange gewöhnt.
An diesem Freitag, mittags kurz vor 13.45 Uhr, die Gemeinde ist gerade zum üblichen Freitagsgebet versammelt, mehr als 300 Leute, marschiert ein schwer bewaffneter Mann in das Gotteshaus – ein Weißer, markantes Gesicht, kurzes Haar. Später wird bekannt, dass er aus Australien kommt und 28 Jahre alt ist. Auf dem Helm hat er eine Kamera, die alles filmt, was er tut, und live ins Internet überträgt. Es deutet alles darauf hin, dass die Aufnahmen authentisch sind – auch wenn sich die Polizei dazu noch nicht äußert.
In den Händen hält der Mann eine Schnellfeuerwaffe. Um den Leib hat er sich eine kugelsichere Weste geschnallt. Die Fingerkuppen der Handschuhe hat er abgeschnitten. Dann schießt er los. Auf den Bildern, die auch nach vielen Stunden noch im Internet kursieren, hört man zu den Schüssen einen Marsch. Von oben sieht man den Lauf seiner Waffe, alles aus der Ich-Perspektive. Es ist wie eines dieser Ballerspiele. Aber in echt.
Was in den nächsten sechs Minuten geschieht, sollte man lieber nicht beschreiben. Diesen Gefallen muss man einem vielfachen Mörder wirklich nicht tun. Fest steht jedoch: So etwas wie Normalität wird es in der Al-Nur-Moschee sehr lange nicht mehr geben. Auf dem grünen Teppichboden und in den Gängen liegen die Leichen von 41 Menschen. Das letzte Opfer ist eine Frau. Der Mann erschießt sie, als sie schon schwer verletzt im Rinnstein liegt.
Als er wieder in sein Auto steigt, immer noch mit der Helmkamera auf dem Kopf, ist der Marsch vorbei. Jetzt läuft ein Song von Arthur Brown aus dem Jahr 1968: „Fire“. Die erste Zeile: „Ich bin der Gott des Höllenfeuers. Und ich bringe euch: Feuer.“ Abgesehen von der unfassbaren Grausamkeit ist die Inszenierung auch an Zynismus nicht zu überbieten. Dann sagt er noch, dass er es bedauere, die Moschee mit dem mitgebrachten Benzin nicht abgefackelt zu haben.
Auf weiteren Waffen, die der Mann im Kofferraum hat, ist „Kebab Remover“ („Kebab-Entferner“) zu lesen und der Name eines Mädchens, das 2017 bei einem Terrorangriff in Schweden starb. Im Netz – auf Twitter und einem Online-Diskussionsforum mit vielen rechtsextremen Beiträgen – kursiert zudem ein 74-seitiges „Manifest“, in dem sich mutmaßlich der Täter zu seinen Beweggründen äußert.
Der Verfasser betont, eine „Atmosphäre der Angst“ schaffen zu wollen. Sich selbst beschreibt er als jemanden aus der Arbeiterklasse. Das Schreiben nimmt auch auf den norwegischen rechtsextremen Massenmörder Anders Behring Breivik Bezug. Ob das „Manifest“ tatsächlich von dem Australier kommt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Polizei wollte sich dazu nicht näher äußern, genauso wenig zu dem insgesamt 17-minütigen Video. Des Weiteren wurde bekannt, dass der Mann viel auf dem Balkan unterwegs war und sich gut mit dem historischen Widerstand der Balkanstaaten gegen die Türken auskennt. Der bulgarische Geheimdienst prüft nun mögliche Verbindungen des Attentäters auf dem Balkan.
Für Neuseeland ist dies eine der schlimmsten Gewalttaten der jüngeren Geschichte. Der letzte Amoklauf liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. 1990 erschoss ein Mann 13 Menschen. Aber so etwas wie jetzt gab es noch nie. Premierministerin Jacinda Ardern sprach von „dunkelsten Tagen“.
Zumal dann auch noch bekannt wird, dass auch in der Linwood- Moschee, ein paar Kilometer weiter, sieben weitere Menschen erschossen wurden. Einer stirbt später im Krankenhaus. Auf die Frage, ob das alles koordiniert war, sagt Ermittler Mike Bush: „Wir haben darüber keine Informationen.“ Die Polizei will nicht einmal sagen, ob dort derselbe Mann geschossen hat oder ob es andere waren. Fest steht: Drei Verdächtige werden festgenommen – auch der Mann aus der Al-Nur-Moschee. Auf einem Video ist zu sehen, wie ihn Beamte aus dem Auto zerren, einem weißen Geländewagen, und auf den Boden zwingen. Am Samstag soll er wegen vielfachen Mordes einem Richter vorgeführt werden. Seinen Namen nennt die Polizei nicht, auch wenn längst vielfach zu lesen ist, dass es sich bei ihm um den gebürtigen Australier Brenton Tarrant handeln soll.
Eine 40-köpfige Reisegruppe aus Kempten und Umgebung erlebt Christchurch an diesem Nachmittag im Ausnahmezustand. Kurz vor den Anschlägen ist sie angekommen. Die Allgäuer im Alter zwischen 60 und 80 Jahren erleben noch eine Stadtrundfahrt. „Auf dem Weg ins Hotel sind wir gerade noch durch die Straßensperrungen gekommen“, berichtet Reiseleiter Karlheinz Wilde. Ihre Unterkunft liegt nur 400 Meter von einem der beiden Anschlagsorte entfernt. Alle sind wohlauf. „Wir mussten den ganzen Nachmittag auf den Zimmern bleiben, niemand durfte mehr auf die Straße“, schildert der 70-Jährige. Weil die Polizei zu dieser Zeit noch nach flüchtigen Attentätern fahndet, bekommen die Hotelgäste ihr Abendessen auf den Zimmern. Die ganze Nacht über hätten die Sirenen geheult, Hubschrauber seien über der Stadt gekreist, sagt Wilde am Freitagnachmittag unserer Zeit gegenüber unserer Redaktion – in Neuseeland ist es da schon Samstag, 4.30 Uhr morgens. Am Freitagabend teilte Premierministerin Ardern dann mit, dass sie als erste konkrete Reaktion auf den Anschlag das Waffenrecht verschärfen wolle. Christoph Sator und Jule Scherer (dpa), Jochen Sentner
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