
Corona, Gewalt, Politiker im Kleinkrieg: Wie sich New York verändert

Plus Hunderttausende sind aus der US-Metropole geflohen. Manche sagen sogar: New York ist tot. Stimmt das? Unsere Reporterin berichtet aus einer gespaltenen Stadt.
Stu Miller floh an einem Samstagmorgen. Von New York nach Illinois, einfach nur raus. Damals, im März, als die Zahl der Corona-Infektionen explodierte und die Metropole lahmlegte. „Was, wenn sie Manhattan, die Insel im Herzen der Stadt, abriegeln und Essen von Helikoptern abwerfen?“, malte er sich aus.
Innerhalb von zwei Stunden packte der 35-Jährige seine Sachen, nahm 500 Dollar in bar und fuhr mit seinem Bruder und dessen Freundin in die Heimat, den Mittleren Westen. Drei Menschen, zwei Hunde, zwei Tage Fahrt in einem Honda Civic. 1600 Kilometer. So weit wie von Rom nach Berlin.
Seit September ist Stu zurück. New York ist jetzt anders.
Hunderttausende Bewohner haben die Stadt verlassen, Geschäfte schließen, Menschen protestieren gegen Rassismus und Polizeigewalt, die Kriminalität steigt und Bürgermeister Bill de Blasio und Gouverneur Andrew Cuomo – übrigens beides Demokraten – bekriegen sich. Obwohl die Stadt längst nicht mehr das Corona-Epizentrum ist, sind sich viele New Yorker einig: Um die Stadt steht es schlimmer als nach den Anschlägen des 11. September 2001.
Wegziehen oder bleiben? Die New Yorker sind gespalten
Der New Yorker Autor James Altucher sagt sogar: „New York City ist tot – für immer.“ In einem Essay schrieb er: „Diesmal steht New York nicht wieder auf.“ Der Comedian Jerry Seinfeld antwortete in der New York Times, Altucher solle „die Klappe halten“, natürlich komme New York zurück.
Seitdem diskutiert die ganze Stadt: Wegziehen oder bleiben? Hoffen oder aufgeben? Die New Yorker sind gespalten.

Stu Miller – rote Haare, lockerer Seitenscheitel, Sommersprossen – sitzt auf einem Barhocker im Wohnzimmer seines Bruders in Manhattan. Der Bruder und die Freundin sind nach Texas gezogen und holen bald ihre Sachen. Stu hat für seine Dinge einen Lagerraum gemietet. „Es ist komisch, in der Wohnung anderer zu leben“, sagt er und nimmt einen Schluck Rotwein. „Willst du meine Brautjungfer sein?“, steht auf dem Glas. Er lacht. Nicht sein Glas. „Ich bin halb heimatlos“, sagt er. Er habe kein Apartment, arbeite digital, die Freunde seien weggezogen. Zurzeit sei es zehnmal einsamer hier. Er lebe von Woche zu Woche.
Alles, was er liebte, das Chaos, die Möglichkeiten, interessante Menschen, „es ist einfach nicht mehr da“. Eine Freundin will ihm einen Job in Kalifornien vermitteln. „Ich ziehe das stark in Betracht“, sagt er und windet sich auf dem Stuhl. Seit elf Jahren ist er hier.
Die größte Abwanderung fand in Manhattan statt
Mehr als 400.000 Menschen haben die Stadt laut New York Times allein zwischen März und Mai verlassen, etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Das habe die Analyse von Smartphone-Standortdaten ergeben. Die größte Abwanderung fand in Manhattan statt, wo die Menschen überwiegend weiß sind, besser verdienen, mehr Miete zahlen und jetzt online arbeiten; die einen Zweitwohnsitz oder Verwandte außerhalb der Stadt haben. Ob sie zurückkehren? Schwer zu sagen.
Die ersten gingen im März, als die Covid-19-Zahlen rasant stiegen und Bürgermeister Bill de Blasio die Schulen schloss. Dann kam der 25. Mai. In Minneapolis starb der Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten. Auch in New York kam es zu „Black Lives Matter“-Demonstrationen und Protesten gegen Polizeigewalt.

Polizeiautos brannten, Schaufenster wurden eingeschlagen, Läden geplündert, Demonstranten und Polizisten verletzt. Präsident Donald Trump twitterte: „NYC wurde in Stücke gerissen.“ Governeur Andrew Cuomo stichelte, die Polizei und der Bürgermeister hätten ihren Job nicht gemacht. Schockiert verließen noch mehr Menschen die Stadt.
Stu Miller ist an der Upper East Side untergeschlüpft. Hier wechseln sich Stadthäuser mit Hochhäusern, Geschäften und Gastronomie ab. Restaurants durften im Innern lange nicht bewirten und jetzt nur bei geringer Kapazität, können aber auf Gehwegen und am Straßenrand bestuhlen. So schlendern Einheimische – die meisten tragen Maske – die Straßen entlang und versuchen, einen Tisch zu ergattern. Doch alles schließt früher und in jedem Straßenblock stehen bestimmt zwei Läden leer.
Wenigstens im Central Park ist noch ein bisschen Normalität
Im angrenzenden Central Park tummeln sich Radfahrer, Jogger und Gassi-Geher. Picknickdecken pflastern die Wiesen, vor allem im Süden, wo im Hintergrund die Hochhäuser von Midtown wie Buntstifte in die Höhe ragen. Freunde lauschen Stand-up-Comedians, hinter ihnen wehen Geburtstagsluftballons, ein Brautpaar hebt seine Sektgläser. Welche Krise?
Die zeigt sich wieder, durchquert man den Park nach Westen Richtung Broadway. Shows finden frühestens ab Juni 2021 statt, und es reihen sich verriegelte Schaufenster aneinander, vor denen in Decken gehüllte Obdachlose liegen. Viele Heimatlose flüchten sich auch in die Subway. Dort fallen sie jetzt noch mehr auf. Die New Yorker meiden die normalerweise stets volle U-Bahn. Der Betreiber, die Metropolitan Transportation Authority, meldet, es seien 70 Prozent weniger Fahrgäste als sonst.
Und: Die Kriminalität steigt. Laut Polizeistatistik wurden in diesem Jahr bereits sechs Menschen in der Subway getötet, im Vergleich zu zwei im Vorjahreszeitraum. Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Vandalismus nehmen zu. Die Tendenz zeigt sich in der ganzen Stadt: Im Vergleich zum Vorjahr sind im September Einbrüche um 44 Prozent gestiegen, es gab mehr als doppelt so viele Schießereien und mehr Morde als im gesamten Jahr 2019.
Jetzt nehmen auch die Corona-Fälle wieder zu, nachdem es monatelang kaum Neuinfektionen gab. Vor allem in Brooklyn und Queens mit großen jüdisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaften sind die Zahlen nach oben geschnellt. Die Angst vor einer zweiten Welle wächst. Bürgermeister de Blasio verkündete, nicht lebensnotwendige Einrichtungen in betroffenen Gebieten je nach Postleitzahl zu schließen. Gouverneur Cuomo lehnte ab und legte eine Landkarte mit gelben, orangefarbenen und roten Zonen mit verschieden starken Einschränkungen vor, die einem Wärmebild ähnelt – und teils de Blasios Postleitzahlen widersprach.
Es tobt ein Machtkampf zwischen Bürgermeister und Gouverneur
Die New Yorker waren verwirrt: Schließt die Schule meines Kindes oder nicht? Bleibt mein Restaurant offen oder nicht? Mitglieder der jüdisch-orthodoxen Gemeinde protestierten gewaltsam dagegen, dass man jetzt ihre Glaubensgemeinschaft ins Visier nimmt. Es war ein weiterer Höhepunkt im Machtkampf zwischen de Blasio und Cuomo, der Beobachtern zufolge so gehässig und kleinkariert ist, wie man es in New York selten gesehen hat. Hier genießen Bürgermeister oft höheres Ansehen – und Gouverneure mehr Entscheidungsmacht.
Bill Pepitone kann das alles nicht mehr mit ansehen. Deshalb will der 53-jährige ehemalige Polizist den Bürgermeister ablösen, dessen Amtszeit 2021 endet. Der Republikaner ist in Brooklyn geboren und aufgewachsen. Er hat graue Haare, breite Schultern und ist keine 1,70 Meter groß. An seiner Jeans baumelt ein Schlüsselbund.
Pepitone hat 27 Jahre lang für das New York City Police Department (NYPD) gearbeitet und sagt: „Es ist eine ganz andere Stadt im Moment.“ Die Stimmung sei angespannt. Am 11. September habe es das Herz der Stadt getroffen. Diesmal treffe es jeden Stadtteil. Die Menschen seien verunsichert und könnten nichts mehr planen. Die Kriminalität sei bei weitem nicht so schlimm wie in den 70er, 80er und 90er Jahren. Doch es gehe um die Wahrnehmung. Was die Stadt jetzt braucht? Starke Führung, sagt er.
Einen wie Rudy Giuliani. Der hatte in den 90er Jahren die Kriminalitätsrate gesenkt, indem er das NYPD hart durchgreifen ließ, selbst bei Ruhestörung. Jetzt sei die Arbeitsmoral der Polizisten so niedrig wie noch nie. Zwischen Schießereien, Ausschreitungen und der Durchsetzung umstrittener Corona-Auflagen wurden ihnen Stellen und Überstunden gestrichen. Eine kontroverse Reform führte dazu, dass viele Kriminelle am Tag nach ihrer Verhaftung ohne Kaution wieder freikommen. Eine andere dazu, dass die interne Liste mit Fehlverhaltens-Vorwürfen gegen Polizisten nun öffentlich ist. Es geht jetzt um mehr Transparenz.
Jetzt steht auch noch die Präsidentschaftswahl an
Mitte Oktober hat zudem der zweitranghöchste Polizeibeamte hingeschmissen. Er fühle sich von de Blasio drangsaliert, hat die New York Times erfahren. Kommende Woche steht auch noch die Präsidentschaftswahl an. Die Stadt ist auch hier tief gespalten. Das NYPD stellt sich auf lang anhaltende Demonstrationen ein. Ex-Polizist Bill Pepitone erwartet gewaltsame Proteste, „das reinste Chaos“, egal, ob Trump oder Biden gewinnt. „Ich denke, das endet vor Gericht.“
Ist New York am Ende? „Nein“, sagt Pepitone, „wir sind noch nicht tot.“ Das Beste an der Stadt seien die Familien, die seit Generationen hier lebten. Er wünscht sich, dass wieder Besucher kommen und die Metropole erleben, wie sie war, bevor die Bilder des leeren Times Square zum Sinnbild der Pandemie wurden. Dort sind zwar wieder Menschen und Autos unterwegs, doch Fußgänger können problemlos rote Ampeln überqueren und ohne Ellbogeneinsatz spazieren – so wenig ist dort los.
In drei Subway-Haltestellen Entfernung, einmal unter dem East River hindurch, ist man in Queens. Ein Park am Wasser bietet freie Sicht auf die Skyline Manhattans. Kinder spielen Ball, Jogger laufen vorbei und auf einer Bank sitzen José Colon, 45 Jahre alt, und Álvaro Peña, 56. Die befreundeten New Yorker haben ihre Stadt noch nie so erlebt. „Es fehlt an Menschen, es fehlt an Business“, sagt José. „Es fühlt sich hohl an, dumpf.“
Eine gebürtige Bayerin sagt trotzdem: "Ich liebe New York"
Álvaro nickt: „NYC hat seine Seele verloren.“ Der 11. September habe die Stadt vereint, jetzt seien die Menschen tief gespalten, ob beim Thema Lockdown, Rassismus oder Polizei. „Wir sind uns alle einig, dass unser Bürgermeister nichts taugt“, wirft José ein. Álvaro nickt: „De Blasio verteufelt die Reichen, dabei sind sie als Steuerzahler wichtig für die Stadt.“ Es sei furchtbar. Kein Tourismus, keine Arbeit, keine Einnahmen, aber hohe Steuern und Mieten. Sein Familien-Tourismusunternehmen musste er aufgeben. Im Moment ist er arbeitslos. Wie zuletzt 14 Prozent der Stadtbevölkerung. José ist Logistikmanager. „Könnte ich für immer von zu Hause aus arbeiten, würde ich wegziehen“, sagt er. Er habe die Bronx brennen sehen, Drogenkriege, Finanzkrisen und Terroranschläge erlebt. Aber das? „Das hat niemand erwartet.“ Auch Álvaro würde für ein gutes Jobangebot gehen. Er sagt aber auch: „Wir sind Kämpfer. Wir sind widerstandsfähig. Wir kommen zurück, größer und stärker.“

Auf einem Trödelmarkt in Chelsea, versteckt zwischen Wohnblöcken, schlendert Sabrina Schumm durch die Reihen. Die 29-Jährige sucht Kunst für ihr Apartment. Im August ist sie vom Nachbarstaat New Jersey hierher gezogen. „Ich liebe die Stadt“, sagt die gebürtige Bambergerin. Die Magie, die Vielfalt, die Möglichkeiten. Daran habe sich nichts geändert. New York sei voll von Machern und Träumern. Sie ist sicher: Die Stadt wird wieder die alte sein. Bis dahin? „Is wie’s is. Basst scho“, sagt sie in fränkischem Dialekt und lacht.
Sabrina Schumm ist an die Upper East Side gezogen. Dorthin, wo Stu Miller wohnt, der wegziehen will. Als er sein Glas Wein ausgetrunken hat, macht er Musik an. Er spielt das Lied, das er immer hört, wenn er im Taxi vom Flughafen in die City fährt: „I’m back. Back in the New York groove“, singt Kiss. Laut und rockig. „Dann freue ich mich immer, zurück zu sein“, sagt Stu etwas wehmütig. Ob er irgendwann wieder hierherziehen würde? Er antwortet: „Ich denke schon.“
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