"Unbekannte Substanz": Wieder ein Giftanschlag in England?
Ein Mann und eine Frau liegen bewusstlos in einem Haus in Südengland. Der Fall erinnert an den Mordanschlag auf die Skripals.
Die Nachrichten ähneln erschreckend jenen, die erst Anfang März und in den darauffolgenden Wochen durch die Welt gingen und für Empörung sorgten: Zwei Menschen kämpfen derzeit im Krankenhaus im südenglischen Salisbury um ihr Leben, nachdem sie in Kontakt mit einer „unbekannten Substanz“ gekommen sind. Das gab die Polizei am Mittwoch bekannt. Wurden der Mann und die Frau, beide zwischen 40 und 50 Jahre alt, Opfer eines Anschlags?
Die Britische Terrorabwehr ist alarmiert
Die Ermittler bewerten den Vorfall als „schwerwiegend“ – nicht nur, weil deren Wohnort Amesbury lediglich knapp 13 Kilometer entfernt von der Kleinstadt Salisbury liegt. Dort wurden vor vier Monaten der russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal, 66, und seine Tochter Julia, 33, mit dem Nervengas Nowitschok angegriffen. Sie waren bewusstlos auf einer Bank vor einem Einkaufszentrum gefunden worden.
Die Regierung in London bezichtigt Moskau, hinter dem Attentat zu stecken. Der Kreml wies dies stets vehement zurück. Vater und Tochter Skripal geht es zwar mittlerweile besser. Die Beziehung zwischen dem Königreich und Russland hat sich nach der schweren diplomatischen Krise aber kaum erholt.
Und nun schweben erneut zwei Menschen in Lebensgefahr. Bislang kann sich niemand erklären, warum. Mittlerweile hat sich die britische Terrorabwehr eingeschaltet. Mit der Veröffentlichung von Details zu den Verletzten – Medienberichten zufolge handelt es sich um britische Staatsbürger – hielten sich die Behörden aber zurück.
Parks und öffentliche Orte wurden abgeriegelt
Nur so viel ist bekannt: Das Paar war am Samstagabend bewusstlos in seinem Zuhause in dem pittoresken Städtchen Amesbury entdeckt worden. Zunächst glaubte die Polizei an eine Überdosis Heroin, Kokain oder Crack. Die 27-jährige Natalie Smyth aus Amesbury erzählte der Presse, am Samstag seien plötzlich Feuerwehr und Krankenwagen vor das Haus des Paares in dem Neubauviertel gerast. „Sie haben die Straßen gesperrt. Sie sagten, es sei ein Chemie-Zwischenfall und dann, dass es mit Drogen zusammenhängt. Es ist so seltsam.“ Seit Mittwoch nun ermittelt aber neben der zuständigen Polizei der Grafschaft Wiltshire die Anti-Terror-Einheit von Scotland Yard.
Parks und andere öffentliche Orte, die die beiden zuletzt besucht haben, wurden aus Vorsichtsmaßnahmen abgesperrt. Vor einer Apotheke standen den ganzen Tag Beamte und in der ruhigen Wohnstraße, wo das Paar erst seit kurzem lebte und wo sich viele Häuser noch im Bau befinden, sind Experten in Spezialanzügen zugange.
Offenbar haben die beiden am Samstag ein Dorffest mit rund 200 anderen Gästen besucht, veranstaltet von der lokalen Baptistenkirche. Sie blieb am Mittwoch ebenfalls geschlossen. Kirchensekretär Roy Collins sagte, „niemand sonst hat irgendwelche Krankheitsanzeichen“. Einem Behördensprecher zufolge ist nicht davon auszugehen, dass eine „erhebliche Gesundheitsgefahr für die breite Öffentlichkeit“ besteht.
Noch ist unklar, um welche Substanz es sich handelt
Es sei zu früh, um eine Aussage darüber zu treffen, ob es sich bei der eingesetzten Substanz um illegale Drogen oder „etwas Ernsthafteres“ handelt, hieß es derweil aus Regierungskreisen in London. Doch man befasse sich mit dem Vorfall „verständlicherweise“ mit äußerster Seriosität, sagte ein Sprecher von Premierministerin Theresa May.
Anschlag oder Unfall? Man gehe „unvoreingenommen“ an den Sachverhalt heran, ließ die Polizei wissen. Angus Macpherson von der Polizei Wiltshire betonte sogar, es gebe „keinen Grund zu denken“, das es eine Verbindung zum Fall Skripal gebe. Trotzdem: Die Ähnlichkeiten lassen aufhorchen. Dementsprechend vorsichtig gehen auch die Rettungskräfte vor.
So wird die Substanz derzeit von Chemiewaffenexperten des Labors des britischen Militärs in Porton Down untersucht, wo auch schon das Nervengift des Anschlags im März geprüft wurde. Die Wissenschaftler hatten diesen damals als einen hoch toxischen, chemischen Kampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe identifiziert, der in der früheren Sowjetunion entwickelt worden war.
Großbritannien lässt Todesfälle von Kreml-Kritikern erneut untersuchen
Großbritannien, in der EU einer der schärfsten Kritiker von Russland, forderte damals mit betonter Entschlossenheit Antworten ein – die die Regierung aber nach eigener Aussage nicht erhielt. So wissen die Ermittler bis heute nicht, wie das gefährliche Nervengas nach Salisbury kam und wer es an der Wohnungstür des ehemaligen Doppelspions anbrachte. Die Briten wollten Stärke demonstrieren, indem sie Sanktionen einleiteten sowie bilaterale Kontakte mit Moskau „auf hoher Ebene“ einstellten und Diplomaten auswiesen.
Dass beim Sieg der englischen Fußballmannschaft durch Elfmeterschießen am Dienstag weder Regierungsvertreter noch Mitglieder der königlichen Familie anwesend waren, liegt daran, dass diese der Weltmeisterschaft in Russland aus Protest fernbleiben. Zudem lässt das Königreich derzeit mehr als ein Dutzend Todesfälle von Kreml-Kritikern und Ex-Spionen im Land erneut untersuchen.
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