Verwirrspiel: Leidet Nawalny an Stoffwechselstörung?
Wurde der russische Oppositionelle Nawalny vergiftet oder nicht? Warum die Krisenkommunikation nur ein vielstimmiges, unklares Bild vermittelt.
Eigentlich könnte sich Russlands Präsident Wladimir Putin zufrieden zurücklehnen: Sein größter politischer Wunsch dieses Jahres ist bereits in Erfüllung gegangen. Die Abstimmung zur Verfassungsänderung, an der er so lange festgehalten hatte, die er später wegen steil steigender Corona-Zahlen doch verschob und schließlich verspätet doch über die Bühne brachte, lief zu seinen Gunsten. Wie denn auch nicht? 78 Prozent der Wähler hatten offiziell für die neue Verfassung und damit auch für die Amtszeitverlängerung ihres Präsidenten gestimmt. Bis 2036 könnte Putin den Russen erhalten bleiben.
Auch sonst lief es gut für Putin. Kurze Zeit später verkündete der Präsident die Registrierung des weltweit ersten Corona-Impfstoffes. Das kam einer Zulassung gleich. Bereits im Herbst sollen Risikogruppen wie Ärzte und Lehrer mit „Sputnik V“ geimpft werden, ab Januar breite Bevölkerungsschichten das Vakzin erhalten dürfen. „Wir sind die Ersten“, frohlockten die Herrschenden – und wunderten sich über negative Stimmen, auch im eigenen Land, die die Eile anprangerten: Schließlich hatte die übliche dritte und damit wichtige Testphase der Impfstoff-Entwicklung noch gar nicht begonnen. Die Bedenken wischte die Regierung aber schnell beiseite. Als Neid aus dem Westen, bekannt wie unerwünscht.
Wurde der Kremlkritiker Alexej Nawalny vergiftet?
Doch es sind keine ruhigen Zeiten derzeit im Kreml. Im krisengeschüttelten Nachbarland Belarus steckt die russische Führung im Dilemma, weil sie sich weder auf die Seite von Dauerherrscher Alexander Lukaschenko schlagen kann, der nach seiner offenkundig gefälschten Wiederwahl und der darauffolgenden brutalen Polizeigewalt seine Legitimation verloren hat und mit dem Rücken zur Wand steht. Noch kann und will Russland die Demonstranten unterstützen: Machtwechsel, die von unten ausgehen, sind nicht des Kremls Sache. Vor „Revolutionen“ aus dem Volk fürchten sich die Herrschenden. Ähnliche Bewegungen im eigenen Land werden mit harschen Mitteln bekämpft, die „Stabilität“ des autoritären Systems Putin darf nicht gefährdet werden.
Seit Donnerstag liegt also nun Russlands bekanntester Kremlkritiker, Alexej Nawalny, im Koma auf der Intensivstation einer Klinik in der sibirischen Stadt Omsk. Der schreckliche Verdacht seiner Mitstreiter: Nawalny sei vergiftet worden, absichtlich. Bricht eine der bekanntesten, lautesten, einnehmendsten Figuren der Opposition aus ungeklärten Gründen zusammen, so ist der Verdächtige Nr. 1 rasch benannt: der Kreml. In der Krisenkommunikation zeigt sich Russlands „Macht“ gewohnt schwach.
Die Geheimhaltung von Nawalnys Krankenakte, das Hinauszögern der Blutanalysen, das Drumherumreden der Ärzte macht Nawalnys Kollaps nur noch mysteriöser, als er schon ist. Der 44-jährige Aktivist dürfe nicht ausgeflogen werden: Nawalny sei nicht transportfähig, erklärte der Chefarzt in Omsk. Dabei steht ein Rettungsflugzeug auf Initiative der in Berlin ansässigen Stiftung „Cinema for Peace“ in Omsk für den Abtransport an die Berliner Charité bereit.
Ärzte: Weder Gift noch Spuren im Blut und Urin Nawalnys gefunden worden
Kein Gift sei gefunden, sagte der Chefmediziner weiter, weder im Blut „des Patienten“ noch im Urin. Auf welche Substanzen Nawalny untersucht wurde, ließen die Ärzte offen und sagten, es gebe „fünf vorläufige Diagnosen, die wahrscheinlichste davon: Störung des Stoffwechsels“. Wodurch diese ausgelöst worden sein könnte, sagten sie nicht. Sicherheitskreise ließen – kaum war Nawalny nach der Notlandung des Linienfliegers von Tomsk nach Moskau in die Omsker Klinik eingeliefert worden – verlauten, der 44-Jährige habe womöglich Psychodysleptika eingenommen, bewusstseinserweiternde Pharmaka, zu denen auch LSD oder Ketamin zählen.
Es ist eine gewohnte Strategie in Russland, so viele, teils widersprüchliche Informationen in Umlauf zu bringen, damit am Ende ein vollkommen unklares Bild der Lage entsteht. Julia Nawalnaja, die Frau des Oppositionellen, schrieb derweil einen Brief an Putin mit der Bitte, ihren Ehemann ausfliegen zu lassen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatten sich bereits öffentlich für Nawalny eingesetzt. Am Freitagabend kam die Nachricht: Nawalny darf in Deutschland behandelt werden.
Die Spekulationen wuchern derweil weiter: Waren Nawalnys Kandidaten für die russische Regionalwahl im September eine so große Gefahr? Trachtet ihm jemand aus den Sicherheitsstrukturen deshalb nach dem Leben? Hinzu kommt, dass Russlands Mächtige in Belarus geradezu beispielhaft vorgeführt bekommen, wie aus einem verängstigten Volk in kürzester Zeit eine politische Kraft werden kann, die einen vermeintlich fest im Sattel sitzenden Machthaber in die Ecke drängt.
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Die Diskussion ist geschlossen.
Ein wichtiger Gegenspieler Putins fällt plötzlich ins Koma. Mehr braucht man eigentlich nicht zu wissen. Aber es gibt natürlich auch irrwitzige Zufälle. :-)
"Wichtiger Gegenspieler"
Eine satte Überhöhung. Als solcher wird er nur hier im Westen wahrgenommen und sonst nirgends auf der Welt. Seine Bedeutung in Russland selbst reduziert sich auf Teile der intellektuellen Eliten in Moskau und St. Petersburg.
Was wissen wir eigentlich über diesen "Kremlkritiker"? Leider herzlich wenig, viel zu wenig. Er scheint mächtige Freunde unter den Oligarchen und in den westlichen Medien zu haben, alles andere als ein "lupenreiner Demokrat" zu sein und sein Rückhalt in der russischen Bevölkerung wird maßlos überschätzt.
Kein Gitanschlag - wenn es denn so käme, wäre das furchtbar!
Furchtbar für die so schön ins Rollen gekommene Propagandamaschine. Ob sich dann so mancher für sein Gesagtes/Geschriebenes schämt?
Dann ausfliegen lassen. Oder muss an was vertuschen?
Wer in GB ex-spione vergiftet, dem ist es durchaus zuzutrauen. Oder hat Putin keine Kontrolle über sein Landund seinem geheimndienst?
Ach Herr V.
glauben Sie denn wirklich das Präsident Putin persönlich Giftanschläge anordnet, sich mit Krankentransport des Herrn Nawalny beschäftigt und ansonsten in seinem fragilen Riesenreich mit der Vielschichtigkeit von Problemen sonst nichts zu tun hat?
Warum z.B. erklärt uns denn niemand, wer die Helfer, die Ärzte, etc. finanziert; warum kennen wir die Interessenslage da nicht? Nur Lieschen Müller glaubt, dass da rein humanitäre Gründe eine Rolle spielen.
"glauben Sie denn wirklich das Präsident Putin persönlich Giftanschläge anordnet, sich mit Krankentransport des Herrn Nawalny beschäftigt und ansonsten in seinem fragilen Riesenreich mit der Vielschichtigkeit von Problemen sonst nichts zu tun hat?"
Oder Zeit dafür hat, sich halbnackt beim Angeln, auf dem Pferd oder mit der Knarre in den Händen ablichten zu lassen?
Oder etwa doch, werter Herr S.?
@ ROBERT M.
"Oder Zeit dafür hat, sich halbnackt beim Angeln, auf dem Pferd oder mit der Knarre in den Händen ablichten zu lassen?"
Ja, so sind sie halt. Der eine lässt sich mit Tränengas den Weg frei räumen, damit er sich vor einer Kirche mit einer Bibel in der Hand fotografieren lassen kann, der andere mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd fotografieren . . .
Herr S.
Ich habe nie behauptet, dass er ein Heiliger ist noch das bei den Finanziers nur Heilige sind.
Es ändert aber nichts daran, dass viele Opposotionelle und kritische Journalisten unter auffälligen mysteriösen Umstände versterben oder bei Ihnen versucht wird diese zu töten. Ist ein möglicher Giftanschlag auf einen politischen Gegner demokratisch oder legitim? Wäre dann ein Giftmord bei dem ein oder anderen AfD-Politiker, der dubiose Zahlungen erhalten, hat in Ordnung? Sicherlich nicht.
Putin ist für seinen Staatsapparat verantwortlich. Wenn es dort seit Jahren eine eigenständige Mordkommission gibt sollte er selber vorsichtig sein. Besonders wenn diese auf ungewöhnliche "Waffen" wie radioaktive Gifte zugreifen kann.
Beweise braucht der Westen nicht. Es war ein Giftanschlag (auch wenn es keiner war).
Mich wundert ,daß SIE aber schon wissen , daß es "kein" mit Gift versuchter Mordanschlag war .
Außerdem verwundert doch sehr Ihre Replik auf "den Westen" .
In keiner Meldung - nirgendwo, in keiner seriösen (!) Nachrichtenquelle steht , daß "der Westen" , am Besten wohl die "bösen bösen Amis" dem russischen Diktator (nichts anderes aber ist Putin , der ja von 1999 - 2036 und somit fast 40 Jahre als Alleinherrscher agierte) der russische Regierung , dem FSB einen Giftanschlag vorgeworfen hätten .
Wieso darf er dann nicht ausgeflogen werden? Wieso bricht ein bisher scheinbar gesunder an einer bisher nicht erkannten Stoffwechselkrankheit zusammen? Waren da nicht bereits einige Giftanschläge auf Abweichler und Oppositionelle. Oder hat Putin seinen Laden nicht im Griff?
@ MARIA T.
"Diktator (nichts anderes aber ist Putin , der ja von 1999 - 2036 und somit fast 40 Jahre als Alleinherrscher agierte)"
Sie sind Ihrer Zeit wieder mal weit voraus . . .
Statt in einer Art Pawlowscher Reflex "Putin war's" loszupoltern, sollten unsere bekannten Verschwörungstheoretiker mal die alte Kriminalistenfrage "cui bono?"stellen. Und da könnten ihnen noch ein paar andere einfallen.
Putin ist sicher kein Unschuldslamm - doch bestimmt kein Idiot . . .
@Maria T. : Mich wundert, daß Sie nicht richtig lesen können. Hat der Westen nicht behauptet, daß es ein Giftanschlag war - ohne nähere Beweise? Meine Beobachtungen sind, daß der Westen immer ziemlich schnell mit Behauptungen da ist - manchmal stellt sich aber später heraus, daß diese eben falsch waren und nur politisch induziert waren. Umgekehrt übrigens ähnlich.
Nein. Kam ja auch noch nie vor…
Mann, mann, mann…