Wladimir Putins Mission: Machterhalt bis 2036
Moskau hält die größte Militärparade aller Zeiten ab – von Corona will niemand etwas hören. Präsident Putin will die Bürger hinter sich sammeln und zur Einheit aufrufen.
Die Pflastersteine am Neuen Arbat mitten in Moskau vibrieren. Swetlana hebt die mitgebrachte russische Fahne in die Luft und ruft „Hurra!“. Ihre Schreie vermischen sich mit dem Schreien ihres Babys und den krachenden Raupenketten der Panzer, die über den Asphalt rollen. Swetlana schiebt ihre achtjährige Tochter und den sechsjährigen Sohn näher ans Gitter, das die Straße vom Gehweg trennt. „Das ist so cool!“, sagt Swetlana. „Das sind wir! Wir!“ Jubel brandet entlang der Straße auf, das weiß gestrichene Flugabwehrraketen- und Kanonensystem „Panzer SA“ mit dem Bild einer Bärenschnauze schindet Eindruck bei den Schaulustigen.
„Schauen Sie sich die Parade zu Hause am Fernsehen an“, hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin den Moskauern geraten. Die Zahlen der Corona-Infizierten sind landesweit weiterhin hoch, in Moskau stagnieren sie bei etwa 1000 Fällen. Der politische Wille, Normalität zu simulieren, ist allerdings größer. Und so feiert Moskau mit Pomp und Pathos. „Der grandiose Sieg ist unvergessen“, sagt Präsident Wladimir Putin auf der Tribüne auf dem Roten Platz. „Unser Land hat die Zukunft des ganzen Planeten bestimmt.“ Er lächelt in die Sonne, hinter ihm sitzen die mit Medaillen behangenen Veteranen und heben zuweilen die Faust in die Luft. Zwei Wochen lang mussten die 80 Männer und Frauen in einem Sanatorium in Quarantäne, bevor sie dem Präsidenten am Ende der Waffenshow die Hand schütteln dürfen.
Militärparade in Russland zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Auf politische Spitzen verzichtet Putin in seiner Rede. Er betont den Siegeswillen des sowjetischen Volkes und verweist auf Dialog und Zusammenarbeit der Länder, auch in heutigen Zeiten. 14.000 Soldaten – aus Russland, aber auch aus Belarus, Serbien, Indien, China oder der Mongolei – marschieren im Stechschritt über den Roten Platz. Panzer, Luftabwehrsysteme und die atomar bestückbare Interkontinentalrakete rollen an den Kremlmauern vorbei. Es ist ein Stolz, der auch der nachfolgenden Generation eingepflanzt werden soll. Es sind vor allem Familien, die entlang der abgesperrten Straßen quer durch Moskau stehen und den Soldaten in den Fahrzeugen salutieren.
Putin hat das Coronavirus von Anfang an als lästiges Übel betrachtet, störten die Maßnahmen, die Krankheit zurückzudrängen, doch erheblich seine politischen Pläne. Nur widerwillig hatte er die Militärparade am 9. Mai, dem Tag des Sieges, wie die Russen das Ende des Zweiten Weltkrieges nennen, verschoben. Der Sieg und das Gedenken an die 27 Millionen sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges sei den Russen heilig, betont er immer wieder.
In Russland halten sich wenige an die Corona-Maßnahmen
Auf Sobjanin, den Mahner, hört derweil kaum mehr einer. Im Alltag halten sich nur wenige an die Maskenpflicht, die Restaurants sind voll, auf Spielplätzen und in Parks achtet niemand auf Abstand. Und nun die Parade, die größte in der Geschichte des Landes, an einem geschichtsträchtigen Datum: Vor genau 75 Jahren ließ der sowjetische Diktator Josef Stalin die erste Parade nach dem Kriegsende abhalten. „Wenn wir darauf warten, bis wir das Virus besiegt haben, können wir ja nie unseren wichtigsten Sieg feiern“, sagt Besucher Andrej am Neuen Arbat. Auf seinen Schultern sitzt sein fünfjähriger Sohn, in tarnfarbenen Kleidern, eine Pilotka auf dem Kopf, die typische ockerfarbene Mütze der Armee.
Ein Virus komme und gehe, „unser Sieg aber ist einmalig“, sagt Andrej. Der „Klebstoff“ der Gesellschaft – die immer aufwendigeren Paraden, der Patriotismus-Unterricht schon ab dem Kindergarten, das Heldengedenken – greift. Der Krieg eint die Nation, über Generationen und politische Überzeugungen hinweg. Die Geschichte wird zu einem wichtigen Instrument, um auch das Handeln der heutigen Regierung zu legitimieren. Da verhallen selbst die Beschwerden, die geschätzt umgerechnet rund 12 Millionen Euro für die Kosten der Parade seien in Zeiten schwerer Wirtschaftskrise falsch ausgegebenes Geld.
Wladimir Putin will bis 2036 Präsident bleiben
Der nachgeholte Siegestag ist also eine Feier mit Kalkül. Denn die Waffenshow soll gute Laune machen für Putins politische Mission: seinen Machterhalt bis 2036. Ab Donnerstag können die Russen eine Woche lang über die Änderungen ihrer Verfassung abstimmen. Putin hat die Änderungen zwar längst unterschrieben, seine Macht aber basiert auf dem Zuspruch des Volkes. Dieses soll ihm huldigen, Corona hin oder her.
Viele im Land verstehen die Änderungen nicht, viele halten das Projekt, das das autoritäre Regime im Land stärkt, für fern ihrer wirklichen Sorgen. Dennoch werden sie in die Wahllokale gehen, der Druck, in Pandemie-Zeiten den Job zu verlieren, ist stark. „Wir haben doch eine Verfassung, warum brauchen wir zwei in einer?“, fragt auch Andrej, als er das Fähnchen seines Sohnes zurück in den Rucksack packt. „Aber die Führung will das, also werden wir die Führung unterstützen, so wie immer. Und dann werden wir über sie schimpfen. So wie immer.“
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