Nach der Berliner Pannen-Wahl streiten die Parteien über eine Wiederholung
Das Chaos war beispiellos – aber rechtfertigen fehlende Stimmzettel und zu spät geschlossene Stimmlokale die komplette Neuwahl des Landesparlaments und aller Bundestagsabgeordneten aus der Hauptstadt?
Fehlende Stimmzettel, Unterlagen für die Briefwahl, die nie zugestellt wurden, Wahllokale, die vorübergehend geschlossen hatten, und Wahllokale, die weit nach 18 Uhr noch geöffnet waren: Der 26. September 2021 geht als der Tag in die Geschichte Berlins ein, an dem nichts von dem funktionierte, was an einem Wahlsonntag in Deutschland sonst wie selbstverständlich funktioniert. Das Chaos bei den zeitgleich stattfindenden Wahlen zum Bundestag, zum Berliner Abgeordnetenhaus, den Bezirksparlamenten und einem Volksentscheid war beispiellos. Nicht einmal das Nachliefern der Stimmzettel funktionierte – da zeitgleich noch ein Marathon stattfand, gab es für viele Fahrzeuge kaum ein Durchkommen.
Das Verfassungsgericht favorisiert eine Neuwahl in Berlin
Gut ein Jahr später ist noch immer nicht klar, welche Konsequenzen das kollektive Organisationsversagen haben wird. Das Berliner Verfassungsgericht hat zwar schon angedeutet, dass es eine Wiederholung der kompletten Wahl zum Landesparlament für nötig hält, die die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey angesichts der schlechten Umfragewerte für ihre SPD das Amt kosten könnte. Eine komplette Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin ist nach gegenwärtigem Stand allerdings kein Thema mehr. Trotzdem liegen die Ampelparteien mit der Opposition deshalb schwer über Kreuz.
„Die Berliner Pannenwahl verlangt nach einer ernsthaften Aufarbeitung, um das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat wiederherzustellen“, betont die Vorsitzende des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, die CSU-Frau Daniela Ludwig, gegenüber unserer Redaktion. „Es muss sichergestellt sein, dass solche Pannen in Berlin nicht wieder passieren, denn die Mängel waren nachweislich gravierend.“
Ampelparteien wollen in 300 Bezirken neu wählen lassen und nur die Zweitstimmen
Nach ihren Worten hatte sich der Ausschuss bereits auf eine Neuwahl in 420 Berliner Wahllokalen geeinigt, nun allerdings wollen die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP nur noch in 300 Bezirken neu wählen lassen und auch nur die Zweitstimmen. „So einem minimalinvasiven Eingriff stehe ich kritisch gegenüber“, warnt die Abgeordnete Ludwig. Die Union plädiere wie der Bundeswahlleiter dafür, die Bundestagswahl in mindestens der Hälfte der Lokale zu wiederholen, das sind etwa 1200.
Den Verdacht, die Ampel handle aus Angst vor einem Verlust ihrer Macht so minimalinvasiv, weist der FDP-Experte Stephan Thomae allerdings zurück. „Selbst wenn alle Berliner Bundestagsmandate neu vergeben würden, ändert das nichts an den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Nur weil es in einigen Wahlbezirken zu Problemen gekommen sei, „hebt man nicht gleich ein Wahlergebnis auf.“ Thomae, selbst Jurist, hält deshalb auch eine mögliche Neuansetzung der Wahlen zum Landesparlament für eine „viel zu grobe Vorgehensweise.“ In der Diskussion, argumentiert er, werde vor allem eines vergessen – dass ein bestehendes Parlament auch funktionieren müsse und dazu eine Art Bestandsschutz benötige.
Teilweise liefen schon die ersten Hochrechnungen
So oder so ist die Lage verzwickt. Angenommen, ein Abgeordneter X verlöre durch die Neuwahl sein Mandat: Räumt er dann freiwillig seinen Platz oder zieht er vor Gericht, um die zweite Wahl anzufechten? Noch im Oktober soll der Bundestag über das weitere Vorgehen entscheiden – und angesichts der Mehrheitsverhältnisse gilt die Ampel-Variante mit der Konzentration auf die Zweitstimmen als wahrscheinlichste Lösung, gegen die dann aber ebenfalls mit Klagen gerechnet werden muss. Dürfen, zum Beispiel, die Ergebnisse eines Wahllokales noch als korrekt gewertet werden, wenn es um 18.45 Uhr noch geöffnet hatte, als im Fernsehen längst die ersten Hochrechnungen liefen?
Wie knapp es teilweise zuging, zeigt ein Blick in den Bezirk Reinickendorf, den die frühere Kulturstaatsministerin Monika Grütters nur mit gut 1700 Erststimmen Vorsprung gewann. Nun muss ausgerechnet die CDU-Frau darauf hoffen, dass die Ampel sich durchsetzt, die nur mit der Zweitstimme neu wählen lassen will.
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