Für die Berlinerinnen und Berliner war kurz nach der Abgeordnetenhaus-Wahl klar, welche Schlussfolgerung aus dem Ergebnis abzuleiten ist. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa befragte im Auftrag von RTL und NTV 1126 repräsentativ ausgewählte Wahlberechtigte zu ihren Präferenzen und das Ergebnis lautet: 65 Prozent der Hauptstädter sehen den Auftrag zur Regierungsbildung klar bei der Berliner CDU. Die hatte die Wahlwiederholung am Sonntag mit 28,2 Prozent gewonnen und die Grünen und die SPD mit jeweils 18,4 Prozent weit hinter sich gelassen. Diese beiden Parteien jedoch denken im Moment noch nicht daran, den Schwarzen das Rote Rathaus zu überlassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich SPD, Grüne und Linke über den Mehrheitswillen hinweg- und ihre Koalition fortsetzen.
Entsprechende Andeutungen hatten die Spitzenkandidatinnen Franziska Giffey (SPD) und Bettina Jarasch (Grüne) schon in der Wahlnacht gemacht. Die gebürtige Augsburgerin Jarasch erhob da schon gar keinen Anspruch auf den Posten der Regierenden Bürgermeisterin mehr. Als Grund nannte sie die 105 Stimmen, die Amtsinhaberin Giffey und ihre SPD vor den Grünen liegen. Doch das könnte sich noch ändern, denn ganz ohne Panne ging auch diese Berlin-Wahl nicht ab. Im Bezirk Lichtenberg wurden nach Angaben von Landeswahlleiter Stephan Bröchler hunderte Briefwahlstimmen nicht ausgezählt. Wie und ob sich diese Stimmen auf die Rangfolge auswirken, bleibt abzuwarten. Lichtenberg war einst Hochburg der Linken, ging am Sonntag allerdings deutlich an die CDU.
Wegner will mit Giffey und Jarasch reden
CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner machte Gesprächsangebote an Grüne und SPD, eine der beiden Parteien würde ihm zum Regieren reichen. Mit der Linken will die CDU keine Sondierungen führen, die AfD wird von allen demokratischen Parteien gemieden. Während Wegner in seiner Partei unangefochten die Nummer eins ist und Linke sowie Grüne ebenfalls keine Personalsorgen haben, kocht es in der Landes-SPD.
Die Beharrungskräfte von Franziska Giffey sind groß, das stößt bei ihren Genossinnen und Genossen vielfach auf Unverständnis. Die 44-Jährige hatte sich im März 2018, damals war sie Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, mit einigen Ränkespielchen ins Kabinett gedrängelt und wurde überraschend Bundesfamilienministerin. Ein gutes Jahr später kamen Vorwürfe auf, Giffey habe bei ihrer Doktorarbeit geschummelt. Mitte Mai 2021 trat sie unter dem Druck der anhaltenden Plagiatsvorwürfe zurück (der Doktortitel wurde ihr kurz danach aberkannt) und wandte sich wieder der Berliner Landespolitik zu. Ihre Beliebtheitswerte sanken stetig, dass die SPD am Sonntag auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis abstürzte, wird Giffey persönlich angerechnet.
Die Not der Berliner SPD ist so groß, dass gar der Name von Michael Müller genannt wird
Der stellvertretende Landesvorsitzende Kian Niroomand sagte dem RBB, seine Partei könne nach diesem Ergebnis "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen". Niroomand forderte einen "Neuanfang", wollte aber nicht sagen, wie der aussehen könnte. Hintergrund ist die dünne Personaldecke bei den Berliner Sozialdemokraten. Raed Saleh, neben Giffey Vorsitzender der Landes-SPD, schaffte es nur mit Mühe auf diesen Posten. Seine Amtsführung wird als lasch und "mafiös" kritisiert, Saleh blamierte sich zuletzt unsterblich bei einem Auftritt in der Fernsehsendung "Chez Krömer". Wer also könnte Giffey ersetzen?
Die Not der Berliner SPD ist so groß, dass gar der Name von Michael Müller genannt wird. Müller war Giffeys Vorgänger im Roten Rathaus, er ist Bundestags-Abgeordneter. Am Tag nach der Wahl sah Müller im ZDF-Interview das Zepter immer noch in der Hand von Giffey. Der SPD-Politiker erklärte aber auch, dass der "innerparteiliche, selbstkritische Prozess" weitergehe. Müller hatte sich 2020 bei der Bewerbung um eine Bundestagskandidatur gegen Sawsan Chebli durchgesetzt, die sich gerade sehr zu Wort meldet und Ambitionen auf die Parteispitze haben könnte. In der Berliner Blase wurde mit SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ein weiterer Name genannt, der in einer Neuauflage von Rot-Rot-Grün Bürgermeister werden könnte. Mehr als eine Spekulation ist das aber nicht. Am Ende könnte alles so bleiben, wie es ist.