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Bundesregierung: Missbrauchsopfer brauchen noch immer viel Hilfe

Bundesregierung

Missbrauchsopfer brauchen noch immer viel Hilfe

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    Sexueller Missbrauch ist alles andere als selten. Die scheidende Bundesbeauftragte hat eine gemischte Bilanz ihrer Amtszeit gezogen.
    Sexueller Missbrauch ist alles andere als selten. Die scheidende Bundesbeauftragte hat eine gemischte Bilanz ihrer Amtszeit gezogen. Foto: dpa

    Am Ende gab es sogar Blumen und Beifall von den Betroffenen. Auch wenn es Christine Bergmann, der unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, eher unangenehm war. „Das wollte ich gerade gerne vermeiden“, wehrte die 72-jährige frühere Bundesministerin für Familie, Frauen, Senioren und Jugend bescheiden die Ehrung ab. Denn auch ohne sie an der Spitze werde es eine zentrale Anlaufstelle für die Missbrauchsopfer geben „mit Ohren, die zuhören“. Doch den Vertretern der Opfer war es ein Anliegen, Bergmann für ihre 18-monatige Tätigkeit zu danken. Ihre Arbeit sei „einmalig gewesen“, die Messlatte für ihren potenziellen Nachfolger liege „sehr hoch“.

    19000 Anrufe und 3000 Briefe

    Vor eineinhalb Jahren, im März 2010, als immer mehr Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute bekannt wurden und sich immer mehr Opfer an die Öffentlichkeit wandten, hatte die Bundesregierung die Berliner Sozialdemokratin aus dem Ruhestand geholt und zur unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung dieses Themas ernannt. Im Laufe der Zeit gingen 19000 Anrufe und 3000 Briefe ein, noch immer sind es 40 bis 60 Anrufe täglich. Oft, bekannte Bergmann, sei sie beim Zuhören bis an ihre Grenzen gekommen. Völlig überrascht habe sie „die Dimension des Missbrauchsgeschehens in der Gesellschaft“. Besonders erschüttert habe sie, wie früh in vielen Fällen der sexuelle Missbrauch begonnen hat. Mit fatalen Folgen: Wenn ein Mensch schon als Kleinkind missbraucht werde, habe dies physische und psychische Folgen für sein gesamtes Leben.

    Die meisten Missbrauchsfälle in der eigenen Familie

    Unterm Strich blieben 6300 Einzelschicksale übrig, die von Jörg M. Fegert, dem Ärztlichen Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Ulm, ausgewertet wurden. Die meisten Missbrauchsfälle (56,6 Prozent) gab es in der eigenen Familie, 29,3 Prozent der Fälle ereigneten sich in Institutionen, unter ihnen fast drei Fünftel in kirchlichen Einrichtungen einschließlich katholischer Schulen und Heime, aber auch in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Sportvereinen.

    Christine Bergmann, die am Monatsende aus dem Amt scheidet, zog eine durchwachsene Bilanz ihrer Arbeit. Viel sei erreicht worden, aber noch mehr gebe es zu tun. „Missbrauch ist kein Thema der Vergangenheit“, lautete ihr eindringliches Plädoyer. Gleichzeitig forderte sie die Politik auf, die Schlussfolgerungen ihrer Arbeit und die Empfehlungen des Runden Tisches, der am 30. November zum letzten Mal tagt, ernst zu nehmen. „Die schönsten Empfehlungen nützen nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden.“

    Verbindliche Aussagen zu Entschädigungen gefordert

    Ausdrücklich forderte Bergmann die Institutionen, deren Vertreter sich an Kindern vergangen hätten, zu verbindlichen Aussagen zu Entschädigungszahlungen auf. Sie sollten sich dabei an den geltenden Schmerzensgeldtabellen orientieren. Zudem empfahl sie, dass sie auch rückwirkend die Therapiekosten übernehmen. Zudem müsste nach ihrer Ansicht das bestehende Therapieangebot sowohl quantitativ wie auch qualitativ deutlich verbessert werden. Und an den Gesetzgeber appellierte sie, das Opferentschädigungsgesetz so zu ändern, dass mehr Betroffene als bisher darüber Heilbehandlungen oder Renten ausbezahlt bekommen.

    Und noch ein Wunsch blieb unerfüllt. Bergmanns Nachfolge ist noch nicht geklärt. Zwar soll die unabhängige Stelle erhalten bleiben, womit für eine gewisse Kontinuität gesorgt wäre, doch ohne einen Kopf an der Spitze, der die Position der Opfer gegenüber der Politik vertritt, fehlt es an Schlagkraft. Christine Bergmann weiß: „Viele Betroffene leiden noch immer.“

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