Roda blickt zur Marienfigur hinter dem Altar, ihre Augen tränenfeucht, ihre Worte überschlagen sich. Sie kommt oft in diese Kirche in Payatas, einem Armenviertel in Metro Manila, der Metropolregion um die philippinische Hauptstadt. Sie findet hier Trost, Hilfe, Menschen, die Ähnliches durchlitten haben wie sie, und die nach wie vor leiden. „Ich gebe es zu, in dieser Kirche und vor der Jungfrau Maria: Mein Mann hat Drogen verkauft. Aber das ist doch kein Grund, ihn umzubringen“, sagt sie.
Ihr Mann hieß Crisanto. Ein Müllsammler und -sortierer, wie viele in dem Viertel. Es entstand um eine offene Mülldeponie, die sich über einige Hektar ins Land ergoss. Denn wo Müll ist, ist Geld. Ein Kilogramm Plastikflaschen für die Wiederverwertung bringt um die 20 Pesos, ein Kilo Aluminium 60, einen Euro also. Der Müll mit seinen giftigen Dämpfen bringt auch Krankheit und Tod. Im Juli 2000 geriet der Berg ins Rutschen. Hunderte starben, die Leiche von Rodas Mutter wurde nach sechs Tagen entdeckt. Rodas Haus – es ist eines der besseren mit seinen gemauerten Wänden – liegt unmittelbar am Müllberg, er ist heute begrünt. Das große Geschäft mit dem Müll, dreckig und korrupt, ist zwölf Kilometer weiter gezogen zu einer anderen Deponie. In der Luft hängt ein süßlicher Geruch.

Rodas Mann Crisanto wurde 36 Jahre alt, erschossen am 5. Oktober 2016.
Damals seien hundert Menschen festgenommen worden, sagt Roda, 37 und Mutter für acht Kinder. Sie glaubt, Crisanto wurde Opfer einer Namensverwechslung. „Ich weinte viel – und wenn ich weinte, weinten die Kinder mit mir“, sagt sie. In ihrem Haus, ein paar Straßen von der Kirche entfernt, hat sie ein Foto von Crisanto ins Regal gestellt, zwischen Wasserkocher, Reiskocherschachtel und einer Nagelschere, es sitzt verrutscht im Rahmen, die Farben sind verblasst.
Rodrigo Duterte nannte sich „Hitlers Cousin“
Die Philippinen haben eine traurige Geschichte staatlicher Willkür. Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten wurden verfolgt, gefoltert, ins Gefängnis gesteckt. Menschen wurden getötet. Unter Präsident Rodrigo Duterte, der am Dienstag wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit am internationalen Flughafen von Manila verhaftet worden ist, waren es wohl Zehntausende. Menschenrechtsgruppen gehen von mindestens 30.000 aus, allein in seiner Amtszeit von Mitte 2016 bis Mitte 2022. Der 79-Jährige, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag vorlag, bestreitet die Vorwürfe. Dass er einen „Krieg gegen die Drogen“ erklärte und damit seinem Land den Krieg, und dass er sich „Hitlers Cousin“ nannte, ist unbestreitbar. „Hitler hat drei Millionen Juden massakriert und wir haben drei Millionen Drogenabhängige. Die werde ich auslöschen“, sagte er.
Nachdem seine Herrschaft vor knapp drei Jahren endete, wandte sich die Weltöffentlichkeit neuen Themen zu. Das Töten dauerte an, beobachten Menschenrechtsaktivisten, unter seinem Nachfolger und Rivalen Ferdinand Marcos Jr. habe es sich allerdings verlangsamt. Roda ist nicht die einzige, die auf dieser Reise durch Metro Manila gegen das Vergessen anredet – und gegen das Verdrängen auf den Philippinen.
Die Killer kamen auf dem Motorrad, erzählen sie, trugen Helme und darunter Masken. Sie kamen auch in Gruppen, 30 Mann, Todesschwadronen mit kugelsicheren Westen. Sie sagten auch, sie seien Polizisten. Sie töteten am helllichten Tag. Sie töteten Väter, Söhne, Ehemänner, Brüder, sie töteten Frauen. Sie töteten, weil jemand als vermeintlicher Drogendealer oder Abhängiger denunziert worden, weil jemand auf eine Todesliste gelangt sei, erzählen Angehörige. Einer der Killer, es war an Weihnachten, habe gesagt: „Haha, Merry Christmas!“ Dann soll er abgedrückt haben. Die Killer töteten, als ihre Opfer Zigaretten holten oder beim Karaoke-Singen waren. Sie gaben nichts auf die flehentlichen Bitten um Gnade. Ihre Opfer waren 36, 30, 22, 17 Jahre alt. „Kill, kill, kill“ – das wollte Duterte, und sie gehorchten.
Manche Leichen fanden Angehörige nach Wochen, auf Feldern etwas außerhalb, manche Leichen blieben vermisst. Nachbarn wollten mit den Familien der Getöteten nichts mehr zu tun haben, aus Angst, sie könnten die nächsten sein. Das Misstrauen wuchs. In Sterbeurkunden mussten Angehörige lesen, die Todesursache sei Herzinfarkt, Hirntrauma, Lungenentzündung, Bluthochdruck. Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ traf besonders die Armen.

Eine Angehörige, die jetzt in einem Raum über der Kirche in Payatas von ihrem Sohn redet, fasst sich an die Brust, es ist die Stelle, an der ihn eine Kugel erwischte. Sie greift nach der Hand der Frau neben ihr, der Wind weht die Geräusche aus einer Schule durchs offene Fenster: Kinderstimmen, ein Gong. Auch Roda ist die Treppen hinauf gestiegen in diesen Raum, vorbei am Aquarium mit den Zierfischen in Neongrün, Neongelb, Neonpink und dem Papst-Franziskus-Porträt im Erdgeschoss, vorbei an der Wohnung von Pfarrer Bong Sarabia im ersten Stock, ein Vinzentiner, der ein schwarzes T-Shirt trägt mit der Aufschrift: „Duterte Ikulong!“ – Duterte einkerkern! „Die Armen“, sagt er, „sind quasi rechtlos.“
Sie liefen von Tür zu Tür, um zu helfen – stets unter Lebensgefahr
2016, einem frühen Höhepunkt der drogenbezogenen Tötungen, gingen Kirchenleute und engagierte Gläubige auf Angehörige zu, in Payatas liefen sie von Tür zu Tür, unter Lebensgefahr, stets in Sorge, die Polizei könne in ihrem Auto oder Haus Drogen platzieren. Sie luden Angehörige zu einem Gottesdienst ein. So kam Roda hierher. Es entwickelte sich eine Gemeinschaft. Die Männer, die Haupternährer der Familien, waren plötzlich weg, die Kinder traumatisiert, Staat und Polizei war nicht zu trauen. Der katholischen Kirche dagegen schon. Roda erinnert sich: „In der Messe damals fühlte ich: Diese Gruppe versteht mich und meinen Schmerz.“ Es war der Beginn des Projekts „Solidarity for Orphans and Widows“ der Vinzentiner – Solidarität für Waisen und Witwen. Inzwischen umfasst es 32 Opferfamilien.
Anfangs wurden die Frauen und Kinder vor allem therapeutisch betreut, später kam die Näherei schräg gegenüber der Kirche hinzu. Sie ermöglicht Roda einen Tagesverdienst von um die 350 Pesos, je nach Auftragslage. Gerade fertigt sie Stofftaschen mit Ankermotiv für ein Reisebüro. Für 350 Pesos müsste ein Müllsammler ein Kilogramm Kupfer finden. Roda weiß, wie hart das ist.

Zwölf Kilometer nordöstlich lebt eine siebenköpfige Familie direkt am Rand der Montalban-Mülldeponie – im und vom Abfall Manilas. Insgesamt sind sie zu zwölft in diesem „junk shop“. Sie gehen im Schichtdienst in den Müll, mit nackten Füßen in Sandalen, um weiterzuverkaufen, was sich weiterverkaufen lässt. Der Rauch von kleineren Feuern beißt in den Augen, um die Füße schwirren Fliegen. Auf der Erde ein weggeworfener Babyschuh, daneben ein Spielzeug-Ferrari. Im Armenviertel Payatas mit seinen 130.000 Bewohnern war es genauso. Pfarrer Bong Sarabia, der während der Corona-Pandemie Hilfsgüter zu den Menschen der Montalban-Deponie brachte, übersetzt die Worte einer Frau mit Kind auf dem Arm, deren Mann Plastikflaschen mit einer Bürste schrubbt: Zusammen, zu zwölft, verdienten sie derzeit 500 Pesos täglich, acht Euro, die Preise seien gesunken, das Geld reiche kaum. Sie sagt, dass sie für drei Jahre in Saudi-Arabien als Haushaltshilfe gearbeitet habe, das sei noch schwieriger gewesen. Warum, das sagt sie nicht.
„Hätten Sie mich wirklich töten wollen, wäre ich schon tot“, sagt Pater Flavie
Da Bildung der Schlüssel zu einem Leben jenseits des Mülls ist, konzentriert sich das Vinzentiner-Projekt zunehmend darauf. Die Kinder sollen gute Schulen besuchen können. Sie wollen Krankenschwestern werden oder Anwälte. In Rodas Haus am begrünten Müllberg steht das Foto ihres getöteten Mannes Crisanto im Regal – an der Wand hängen Fotos ihrer Söhne und Töchter mit Diplomen. „Sie haben gute Noten“, sagt sie.
Die Reise durch den Großraum Manila führt nun aus den Armenvierteln heraus zu Menschen, die sich für die Angehörigen der drogenbezogenen Tötungen stark machen, indem sie die Fälle akribisch dokumentieren – als Grundlage für Gerichtsverhandlungen und als stille Zeugen tausendfacher, systematischer Menschenrechtsverletzungen. Die Reise führt zu Pater Flaviano Villanueva.

Es ist nicht einfach, „Flavie“ Mitte Februar in Manila zu treffen. Die Washington Post berichtete über ihn auf ihrer Titelseite, andere Medien auch. Seine Bekanntheit schützt ihn. Doch kürzlich habe ein Motorradfahrer vor ihm gestoppt und ihn gefragt: „Wie geht es Ihnen, Pater Flavie? Passen Sie auf sich auf.“ Seitdem ändert er wieder stärker seine Abläufe. Ob er Angst habe? „Es ist meine Berufung“, sagt der Steyler Missionar mit einem Lächeln im Gesicht. Als sichtbares Zeichen der Solidarität mit den Opfern von Dutertes „Kill, kill, kill“-Politik rasierte er sich bereits den Schädel kahl. Vielfach wurde er eingeschüchtert und mit dem Tode bedroht. Sie suchten seine Mutter auf, er musste diese bitten, das Land zu verlassen. Wegen „Verschwörung zum Aufruhr“ wurde er angeklagt und 2023 freigesprochen. „Hätten Sie mich wirklich töten wollen, wäre ich schon tot“, sagt er.
Bekannt über die Philippinen hinaus wurde Pater Flavie, der selbst drogenabhängig war, dadurch, dass er mutmaßliche Opfer exhumieren und untersuchen ließ. Sterbeurkunden mögen lügen, Knochen nicht. Die Autopsien entlarvten die „natürlichen“ Todesursachen Herzinfarkt, Hirntrauma, Lungenentzündung oder Bluthochdruck als Vertuschungsversuche. Die Skelette wiesen Schüsse in den Rücken, in den Hinterkopf, in die Brust auf. Dank des Ordensmannes haben Angehörige Gewissheit, eine Gewissheit im letzten Moment. Schließlich verschwinden die sterblichen Überreste in Massengräbern, wenn nicht länger für eine Grabstätte bezahlt werden kann.
Auf eine Autopsie folgte eine Kremierung, die Angehörigen erhielten die Urne. Im vergangenen Jahr hat Flavie auf einem Friedhof eine Gedenkstätte eingeweiht, einen „Schrein der Heilung“. Darin wurden Urnen bestattet. Der Ort ist in den Worten des Paters ein Symbol: Das Böse kann nie fortbestehen, wenn es Menschen gibt, die sich für Wahrheit und Frieden einsetzen. Sein nächstes Ziel ist der Bau eines Museums. Zum Abschied sagt er über Duterte, den „Schlächter“, den „Inbegriff des Bösen“: „Ihn vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu sehen, das wäre ein Feiertag für mich.“ An diesem Mittwochabend landete ein Flugzeug mit Duterte, der immer noch einflussreich auf den Philippinen ist, in den Niederlanden. Er wird in Den Haag erwartet. Flavies Aufklärungsarbeit dürfte in einem Prozess von erheblicher Bedeutung sein.

Nachrichten über den Ex-Präsidenten verbreiten sich in diesen Tagen weltweit; in der Kirche in Payatas haben sich Kamerateams aufgebaut. Pfarrer Bong Sarabia postet ein Foto davon auf Facebook. Monsignore Wolfgang Huber, der Präsident des internationalen katholischen Missionswerks missio München, hatte ihn Mitte Februar mit einer Delegation aus dem Bistum Augsburg besucht. Der Vinzentiner erklärte ihnen, wie in seiner Gemeinde Familien der Anti-Drogenkriegsopfer unterstützt werden. Deren Geschichten berührten Huber sichtlich, er spricht nun von einem „entscheidenden Schritt in Richtung Gerechtigkeit“. Vor der Marienfigur, zu der Roda so oft betete, hatte er mit Bong Sarabia einen Gottesdienst gehalten. Der postet ein zweites Foto: er am Altar, bei ihm Mitglieder der Opferfamilien. Mehrere von ihnen tragen schwarze T-Shirts mit der Aufschrift „Duterte Ikulong!“ – Duterte einkerkern! Roda hat das Foto von Crisanto in die Kirche gebracht. Es steht auf einem Tisch vor dem Altar.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden