Irgendjemand hat Süßes mitgebracht. Ein paar Bonbons, ein Gebäck in Bärchenform mit Kondensmilch als Füllung. Eine Plastikflasche Apfelsaft steht daneben und eine Grabkerze. „Wir denken an dich“, hat ein Besucher auf eine Gummiente zwischen all den Plastikblumen und den Rosen, Nelken, Astern geschrieben. „Du fehlst.“ An diesem Sonntag jährt sich der Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny zum ersten Mal. Ein Tod, so plötzlich und doch nicht erwartet, in einer Strafkolonie hinterm Polarkreis.
Es war ein Tod, der vielen Russinnen und Russen die Hoffnung nahm. Eine Hoffnung auf das „wunderbare Russland der Zukunft“, die ihnen ihr Idol – auch hinter Gittern – mit einem Lächeln auf den Lippen immer wieder zu spenden vermochte, selbst, wenn sie nicht hinter allem standen, was Nawalny an Ideen für das Land einbrachte. Ein paar junge Männer stehen am Grab. „Wir kommen zum Atmen“, sagt einer von ihnen. Manchmal seien sie zu zweit hier, manchmal zu sechst, wie an diesem Februardonnerstag. „Wir können wenig bewirken in unserem Land, ohne unser eigenes Leben zu gefährden, aber noch können wir frei denken, zusammen trauern, zusammen wütend sein, zusammen von einer Zukunft träumen, von der wir seit drei Jahren gar nicht recht wissen, wie sie aussehen soll“, sagt er. Die anderen schauen zu Boden, einer nickt. Viel reden wollen sie nicht. Sie wissen, dass am Friedhof und um den Friedhof herum Kameras hängen. Sie könnten schnell zu „Extremisten“ erklärt werden, sie könnten auch an die Front geschickt werden.
Politische Teilhabe ist in Russland nicht erwünscht
Mit dem Tod des Politikers starb auch die Bedeutung des Wortes „Opposition“ in Russland. Denn niemand im Land, außer den staatlichen Akteuren, darf sich in Russland an der Politik beteiligen. Schlimmer noch: Alle, die das auch nur versuchen, werden von staatlichen Organen strafrechtlich verfolgt. Es gibt keine politische Opposition in Russland, es gibt lediglich einen politischen Untergrund innerhalb Russlands oder politische Emigranten außerhalb Russlands. Dazu noch wenige, oft ehemalige Lokalpolitiker, die sich zivilgesellschaftlich engagieren. Die meisten von ihnen gehen vor allem zu Gerichtsverhandlungen, um den politisch Verfolgten das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein.
Wer in der Diaspora lebt, hat zunächst allerlei damit zu kämpfen, selbst Fuß zu fassen. In der Diaspora aber werden auch die Meinungsverschiedenheiten über das, was ihre verlorene Heimat denn falsch gemacht habe, was sie selbst falsch gemacht hätten und wie all das wieder gut zu machen sei, offensichtlich noch größer. Die Fehde wird vor allem digital ausgetragen. Die russische Opposition von früher lässt sich im gegenseitigen Hass auseinandertreiben.
Opposition liegt im Streit miteinander
Da ist die Gruppe um Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK, für die bereits Boris Jelzin und seine Oligarchen für das Putin'sche Übel verantwortlich seien. Sie drehen Filme und treten selbst denen auf die Füße, die Nawalny und seine Mitstreiter grundsätzlich schätzen. Da ist auch die Gruppe um den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, der zehn Jahre in russischen Strafkolonien verbrachte, bevor Putin ihn 2013 kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi begnadigte und ins Ausland entließ. Im Clinch liegen die Nawalny-Leute auch mit dem ebenfalls ausgewanderten Aktivisten Maxim Kaz. Er informiert über seinen erfolgreichen YouTube-Kanal aus Israel über die Geschehnisse in Russland und der Welt. Nun wollen die FBK nachgewiesen haben, dass Kaz‘ Ehefrau Gelder aus russischen Staatsunternehmen annimmt. Finanziert sich Kaz also vom schmutzigen Regime-Geld?
Immerhin die beim Gefangenenaustausch im vergangenen August frei gekommenen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa versuchen sich als einigende Kraft. Zusammen mit Nawalnys Ehefrau Julia betonen sie den gemeinsamen Feind: Wladimir Putin. Eine erste Antikriegsdemo, die die Andersdenkenden aus Russland vereinen sollte, hatten sie vor einigen Monaten in Berlin organisiert. Eine zweite soll am 1. März folgen. Doch auch ihnen schlägt teils scharfe Kritik entgegen. Einmal können sich die Gruppierungen nicht darüber einigen, ob die russische Flagge bei solch einer Demo angebracht sei, einmal nicht ausmachen, wer mitlaufen solle. So bleiben heftige Diskussionen über die Moral und über kollektive Schuld, es bleiben Anschuldigungen und Kränkungen. Derweil baut der Kreml weiter an der Imitation des politischen Lebens in Russland.
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