Nach Jahren des Wartens, der Unsicherheit und unzähliger Verhandlungsrunden beginnt für Gibraltar eine neue Ära. Der Grenzzaun zwischen Spanien und der seit über 300 Jahren bestehenden britischen Minikolonie im Südwesten Europas fällt. „La Verja”, wie der Drahtverhau in Spanien genannt wurde, war jahrzehntelang ein Symbol für Trennung und Misstrauen – und ein Grenzhindernis, das den Zigarettenschmuggel blühen ließ. „Heute ist ein großer Tag“, erklärte Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez nach Verkündigung des Durchbruchs. „Nach drei Jahrhunderten ohne Fortschritte haben die EU, das Vereinigte Königreich und Spanien ein umfassendes Abkommen im Interesse der Bürger erzielt. Und das, ohne auf die spanischen Ansprüche auf diesen Landstrich und auf die Rückgabe Gibraltars zu verzichten.“
Auch auf britischer Seite wurde gefeiert. „Wir haben eine praktische Lösung erreicht, die Souveränität, Arbeitsplätze und Wachstum sichert“, erklärte der britische Außenminister David Lammy. Gibraltars Regierungschef Fabian Picardo brachte es so auf den Punkt: „Ein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in Bezug auf Gibraltar ist jetzt Realität. Es ist ein historisches Abkommen.“ Das am Mittwoch überraschend zwischen der EU, London und Madrid geschlossene Abkommen schließt eine der letzten und kuriosesten Brexit-Baustellen: Gibraltar ist ein kleines britisches Überseegebiet, das direkt an Spanien grenzt, 34.000 Einwohner zählt und dessen Grenze täglich von rund 15.000 spanischen Pendlern überquert wird, die in der britischen Kronkolonie arbeiten. Nun wird Gibraltar ein Teil des Schengen-Raums.
Erleichterung für Pendler und Touristen
Laut einer gemeinsamen Erklärung der EU-Kommission sowie der spanischen und der britischen Regierung ist das Ziel des Abkommens, „den zukünftigen Wohlstand der gesamten Region zu sichern“, indem alle Barrieren für Personen und Waren zwischen Spanien und Gibraltar beseitigt werden. Konkret bedeutet das: Das Einreißen des Grenzzauns und das Ende der Kontrollen an jener Straße, die Spanien und Gibraltar verbindet. Stattdessen gibt es künftig „doppelte Kontrollen“ am Hafen und am Flughafen Gibraltars – durchgeführt von spanischen und gibraltarischen Beamten.
Diese pragmatische Lösung bringt Erleichterung für die Pendler und Planungssicherheit für die lokale Wirtschaft auf beiden Seiten der Grenze. Eine offene Grenze dürfte auch Millionen von Tagestouristen, die jedes Jahr den „Affenfelsen“ besuchen, das Leben erleichtern. In der Vergangenheit kam es am Grenzübergang immer mal wieder zu längeren Wartezeiten. London stellte klar: An der britischen Souveränität oder der militärischen Präsenz in Gibraltar ändert sich nichts. Das Abkommen „garantiert die vollständige operative Autonomie der britischen Militäranlagen“, erklärte die Regierung. Die strategisch wichtige Basis an der westlichen Einfahrt zum Mittelmeer bleibt – genau wie die britische Flagge über dem Affenfelsen.
Der ewige Streit über die Souveränität wurde bei diesem Abkommen ausgeklammert – mit voller Absicht. Gibraltar gehört seit dem Jahr 1713 zum Vereinigten Königreich, nachdem es im Frieden von Utrecht von Spanien an Großbritannien abgetreten wurde. Aber es ging in diesen Verhandlungen nicht darum, einen jahrhundertealten Souveränitätskonflikt zu lösen, sondern die tägliche Lebensrealität für Zehntausende von Menschen zu verbessern. Und das scheint gelungen zu sein. Allerdings muss nun noch die technische Umsetzung erfolgen. Und wie so oft wird der Teufel auch hier im Detail stecken. Es wird um juristische Feinheiten gehen und um operative Einzelheiten sowie um eine Angleichung der Steuer- und Zollregelungen.
Der Bestand der Affen ist stabil
Madrid bezeichnete Gibraltar in der Vergangenheit nicht nur als „besetztes Gebiet“. Vielmehr sah Spaniens Regierung diesen britischen Flecken, der bisher eine Einkaufs- und Niedrigsteueroase war, als Hort des Schmuggels und Steuerbetrugs. Tabak, Benzin und Diesel waren dort billiger als in Spanien. Viele europäische Immobilien-, Investment- und Glücksspielunternehmen haben hier ihren Sitz. Wegen der großen wirtschaftlichen Abhängigkeit von Spanien stimmten übrigens 2016 im Brexit-Referendum 96 Prozent der Koloniebewohner gegen einen EU-Abschied. Trotzdem waren die Gibraltarer schon immer sehr stolz darauf, zur britischen Krone zu gehören. In zwei Volksabstimmungen, 1967 und 2002, votierten sie für den Verbleib unter britischer Hoheit.
Und dann ist da noch die berühmte historische Legende, die besagt: Solange Affen auf dem Felsen leben, bleibt Gibraltar britisch. Der Bestand der Berber-Makaken, von denen etwa 300 Tiere auf der Felsenhalbinsel leben, ist stabil. Dafür sorgt auch die Gibraltar-Regierung, welche die Affenkolonie pflegt, füttert und gesundheitlich überwacht. Die Gibraltar-Affen sind so zu einer touristischen Attraktion geworden – und zugleich zu einem Symbol der britischen Präsenz.
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