Herr Spahn, der Corona-Ausbruch in Deutschland jährt sich zum 5. Mal. Wie oft denken Sie noch an diese Tage Anfang 2020 zurück? Als Bundesgesundheitsminister waren Sie gefordert, wie vielleicht kein zweiter Politiker in Deutschland.
Jens Spahn: Es war für uns alle, für die ganze Welt, eine Ausnahmesituation. Natürlich denke ich immer mal wieder an Entscheidungen, Momente und Situationen aus dieser Zeit. Mir geht es da nicht anders als vielen Deutschen. Und ich denke dann, hoffentlich erleben wir das nur einmal in unserem Leben. Jetzt zum fünften Jahrestag kommen die Bilder und Gefühle wieder stärker hoch. All die Unsicherheit, die es in den ersten Wochen gab. Und die Hoffnung, dass wir das Virus aus China eindämmen könnten. Wir wissen, es kam anders.
Ich kann mich noch an die erste Pressekonferenz mit dem damaligen Chef des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler, erinnern. Seinerzeit hielt das RKI das Tragen von Masken für nicht notwendig. Wie trifft man als Minister Entscheidungen, wenn selbst Experten es nicht genau wissen?
Spahn: Es gab drei Grundprinzipien in der Krise, an die ich mich gehalten habe. Geschwindigkeit ist in der Krise wichtig, wichtiger als Perfektion. Das hieß am Anfang vor allem schnell entscheiden. Übrigens auch schnell beschaffen. Es fehlten Masken, Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte, später Impfstoffe und Medikamente. Schnell entscheiden und beschaffen, denn es gab ein zweites Prinzip: Zu haben ist besser als zu brauchen. Und das Dritte ist, wir müssen uns unter Stress vertrauen und immer wieder auch korrigieren. Die Anpassung der Strategie war Teil der Strategie, weil es immer wieder neue Erkenntnisse gab über Ansteckung und Verbreitung des Virus. Erinnern Sie sich noch, als bekannt wurde, dass Aerosole in der Luft ein wesentlicher Überträger des Virus sind? Das war so ein Moment. Plötzlich wussten alle, was Aerosole sind.

Wie muss man sich Ihren Arbeitstag am Beginn der Pandemie vorstellen. Hängt der Minister am Telefon, um mit Kliniken zu reden, Virologen oder um Masken zu beschaffen?
Spahn: Also jedenfalls habe ich das so gemacht. Und ich war ja nicht der einzige. Bei Herstellern von Beatmungsgeräten aus Deutschland haben der niederländische König und der brasilianische Präsident angerufen. Dann muss zumindest der deutsche Gesundheitsminister selbst anrufen, damit auch Deutschland etwas abbekommt. Und natürlich habe ich auch versucht zu lernen. Zum Beispiel, wenn ich in der Zeitung gelesen habe, da sieht jemand etwas anders als wir. Ich erinnere mich noch an einen Pathologen aus Hamburg, der gesagt hat, die Regierung übersieht da was bei den Verstorbenen. Dann habe ich den einfach angerufen. Ich habe am Anfang häufig Dinge getan, die ein Minister in normalen Zeiten eher nicht macht. Aber das gehört dazu. In der Krise muss jeder mit anpacken. Auch wenn Handeln oft mehr Ärger bringt als Nichtstun.
Sie spielen selbst auf die umstrittenen Maskendeals an. Sie sagten Importeuren bis zu 4,50 Euro pro FFP2-Maske zu, die in der Herstellung vielleicht 50 Cent kosteten. Die Geschäfte wurden von Ihrem Nachfolger Karl Lauterbach gekündigt, die Unternehmen pochen aber auf Einhaltung der Verträge. Die Prozesse laufen und könnten den Staat hunderte Millionen kosten. Waren Sie zu leichtgläubig?
Spahn: Wir mussten den Schutz der Bevölkerung sicherstellen. Das war das überragende Ziel, hinter dem die Kosten zurückgetreten sind. Deutschland hat seinerzeit in allen Bereichen viel Geld aufgewendet, um die Folgen der Pandemie zu lindern. Die entscheidende Frage ist doch, warum sollten wir absichtlich zu viel oder zu teuer eingekauft haben? Diese Frage können auch die Kritiker nicht beantworten. Wir mussten doch Masken für den Fall beschaffen, dass China nicht wieder aufmacht. Mit dem Wissen von heute würde ich anders entscheiden. Ich bin aber beeindruckt davon, wie manche im Nachhinein alles vorher besser wussten. Das ist dann das Privileg derjenigen, die nicht entscheiden mussten.
Das Virus ließ sich dann trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht eindämmen. Im Frühjahr 2020 wurde Deutschland das erste Mal heruntergefahren. Wie reift solch eine gravierende Entscheidung? Wann ringt man sich dazu durch, die Freiheit so massiv zu beschränken?
Spahn: So eine Entscheidung wird nicht über Nacht gefällt. Sie wird intensiv im Kabinett diskutiert, darum wird gerungen. Und sie entwickelt sich nach der aktuellen Lage und nach den Erfahrungen anderer Länder. Wir haben die Bilder aus Norditalien gesehen, die Bilder aus New York, wo sich die Särge stapelten. Harte Entscheidungen haben wir aber nicht allein in Berlin beschlossen, sondern immer gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer. Denn der Bund kann das Land gar nicht runterfahren. All die Entscheidungen zur Schließung von Schulen oder Gaststätten können nur die Länder treffen. Unser überragendes Ziel war, die Krankenhäuser vor Überlastung zu schützen, damit immer Intensivbetten frei waren. Es ging nicht darum, jede Infektion zu vermeiden, das kann man auch nicht. Unterm Strich ist es uns gelungen, die Krankenhäuser vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Wo haben Sie dabei Fehler gemacht?
Spahn: Es wäre ein Wunder, wenn in so einer Ausnahmesituation keine Fehler passiert wären. Im ersten Lockdown wurden sogar Parks geschlossen und Spielplätze. Seinerzeit wussten wir wenig über Corona und die Ansteckungswege. Dann haben wir gelernt, draußen zu sein ist nicht schlecht, es ist sogar gut. Und deswegen hat man das dann auch nicht wieder gemacht. Im Nachhinein war es also Unsinn, Parks zu schließen. Auch die langen Schulschließungen waren ein Fehler. Aber in der Rückschau darf man nicht nur mit dem Wissen von heute darauf schauen, sondern muss von dem Unbekannten ausgehen, was es damals für alle war.
Große Hoffnungen waren mit den Impfstoffen verbunden, die sie in der Wirklichkeit der Pandemie nicht einhalten konnten. Auch Geimpfte konnten das Virus übertragen, trotz Immunisierung erkrankten Leute schwer. Wie schwer belastete diese Enttäuschung den Kampf gegen Corona?
Spahn: Erstmal ist es ein großes Glück und einmalig in der Menschheitsgeschichte, dass nach dem Auftreten eines neuen Virus in so kurzer Zeit ein Impfstoff verfügbar war. Das geschah in zwölf Monaten. Das hat es noch nie zuvor gegeben. Und das nicht zuletzt mit Innovationen von deutschen Unternehmen, deutschen Forschern. Es ging von Anfang an bei den Impfstoffen darum, schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Dass sie Corona nicht sofort ausgeschaltet haben, hat dann für viel Frust gesorgt, der zum Teil bis heute anhält. Aber für die Corona-Impfstoffe gilt dasselbe, wie für die meisten anderen Vakzine, die wir als Kinder kriegen. Sie vermeiden in aller Regel vor allem den schweren Krankheitsverlauf. Das ist ja auch das Entscheidende.
Es gab damals einen hohen Druck auf Leute, die sich nicht impfen lassen wollten. Sie haben immer für die Impfung geworben, waren aber gegen eine Impfpflicht. Woher rührte diese Haltung? Alt-Kanzlerin Merkel zum Beispiel war ja dafür.
Spahn: Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, die Debatte über eine Impfpflicht mitten in einer Pandemie zu führen. Bei einer Impfung geht es um den eigenen Körper, das geht tief und da braucht es viel Vertrauen. Die Impfpflicht im Gesundheitssektor ist gegen viel Widerstand beschlossen worden und hat enorm an Vertrauen gekostet. Durchgesetzt werden konnte sie in der Praxis aber nicht, wie ich es befürchtet hatte. Für eine allgemeine Impfpflicht hatte die Ampel keine Mehrheit im Parlament, obwohl sogar Bundeskanzler Scholz dafür warb.

Sie haben vielleicht den intelligentesten Satz zur Pandemie als sozialem Phänomen gesagt. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, lautete er. Wenn Sie heute auf die Corona-Jahre zurückschauen, unterstützen Sie die Forderung nach einer gesellschaftlichen Aufarbeitung in einer Kommission? Und wie reagieren die Leute auf Sie persönlich?
Spahn: Zwei Drittel der Deutschen sagen bis heute, dass sie gut durch die Pandemie gekommen sind und dass sie mit unserer Politik auch im Rückblick alles in allem zufrieden sind. Und das erlebe ich auch im Persönlichen. Klar gibt es auch diejenigen, die ihre Kritik, ihren Frust loswerden wollen in der persönlichen Begegnung. Es gibt aber auch sehr viele, die sagen, danke, dass Sie uns ruhig und sachlich durch diese Zeit geführt haben. Es gibt also beides.
Und die Aufarbeitung…
Spahn: Zur Frage Aufarbeitung hätte ich mir gewünscht, dass es eine Enquete-Kommission im Bundestag gibt mit Politik, Wissenschaft und Experten, die breit angebunden sind und diese Ausnahme-Zeit aufarbeiten. Es geht ja darum, für die Zukunft zu lernen. In der Ampel-Koalition gab es keine Mehrheit dafür, weil SPD und Grüne das nicht wollten. Der Befund heute ist leider klar und deutlich. Fünf Jahre nach dem Beginn sind wir nicht besser auf eine neue Pandemie vorbereitet als 2020. Der Stand der Digitalisierung in den Ämtern ist weiter schlecht, es mangelt an Vorräten an Masken, Beatmungsgeräten und Medikamenten.
Zur Person: Jens Spahn gehört dem Bundestag seit 2002 an. Nach seiner Verwendung als Finanzstaatssekretär unter Wolfgang Schäuble übernahm er 2018 das Amt des Bundesgesundheitsministers. Ihm kam damit nach Ausbruch der Corona-Pandemie eine maßgebliche Rolle bei der Bekämpfung der Seuche zu. Nach der Abwahl der Großen Koalition 2021 versuchte der Münsterländer, CDU-Vorsitzender zu werden, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der 44-Jährige lebt mit seinem Ehemann in Berlin.
Oje, da hat sich einer mit der Aufarbeitung, auch mit der eigenen, nicht wirklich beschäftigt. Wer jetzt immer noch mit den "Bildern aus Bergamo" oder "wir wussten es nicht besser" argumentiert... Zu den Bildern aus Bergamo gibts einen Beitrag auf BR ("wie eine Fotolegende entstand"). Viel Wissen war u.a. im Nationalen Pandemieplan gesammelt, den offenbar kaum einer der Verantwortlichen zu Rate gezogen hatte. Dass Corona aerogen übertragen wird, wusste man eigentlich schon vorher, trotzdem hat man das als völlig neues dargestellt. Dass Schulschließung eher schädlich und gleichzeitig Kinder und Jugendliche am wenigsten gefährdet sind, hat in vielen Ländern dazu geführt, dass es bereits im Schuljahr 20/21 keine Schließungen mehr gab (nicht nur in Schweden). Theoretisch war also Wissen da, man hat es aber oft nicht evidenz- und vernunftbasiert, sondern eminenz- und teilweise angstbasiert unter Beteiligung unkritischer Medien ermittelt.
Danke für den Hinweis - sehr lesenswert: www.br.de/nachrichten/kultur/der-militaerkonvoi-aus-bergamo-wie-eine-foto-legende-entsteht,TJZE6AQ
"Zu den Bildern aus Bergamo gibts einen Beitrag auf BR ("wie eine Fotolegende entstand")" Und was? Das Bild zeigt einen Konvoi von 13 Militärfahrzeugen, die Corona-Tote transportieren, oder wollen Sie das etwa leugnen, Herr Bock?
Lesen Sie doch den BR-Beitrag, es geht um das, was aus den Bildern gemacht wurde (und es waren 9 Fahrzeuge, nicht 13): "In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020). Es war die Angst vor dem "Killervirus" genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden."
Fein, wie dem Manager des Desasters Platz zur Rechtfertigung eingeräumt wird. Momentan ist ja ja als selbsternannter Trump-Klon auf neuen Pfaden unterwegs. Da kann ein kleiner Push nicht schaden.
Vorbereitet auf Pandemien kann man eh nur sein auf die die man schon in einer Form hatte. Neue Varianten von Viren oder anderen Infekt erzeugenden (Bakterien, Pilze oder Parasiten) kann man lediglich unter Opfern beobachten und sich nach den Erfahrungen anpassen, wie im Fall von Corona.
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