In der Krise vereint: Streikwelle in London erreicht ihren Höhepunkt
Erst streikten in Großbritannien nur die Lokführer, später auch die Postboten. Doch was als Arbeitskampf in einzelnen Branchen begann, hat sich längst zu einem Flächenbrand entwickelt.
Zunächst ist es nur eine kleine Gruppe von Lehrern, die sich am Mittwochvormittag bei strahlendem Sonnenschein vor dem Gebäude der BBC im Zentrum Londons versammelt, um gemeinsam Richtung Westminster zu marschieren. Dann jedoch schwillt der Protestzug von Minute zu Minute an, wird mehrere Kilometer lang. Immer mehr Menschen kommen hinzu, viele gemeinsam mit ihren Kindern. Es liegt Aufbruchstimmung in der Luft. Dicht an dicht gedrängt, machen sie durch die Schriftzüge auf ihren Schildern klar, warum sie auf die Straße gehen: „Rettet unsere Schulen“ war dort zu lesen; oder auch „Tories raus“.
Die Streiks in Großbritannien erreichen einen neuen Höhepunkt; und das in einem Land, in dem Gewerkschaften jahrelang als verpönt galten. Nach Wochen und Monaten mit Demonstrationen, bei denen vor allem Ausstände der Pfleger und des Notfallpersonals im Fokus der medialen Aufmerksamkeit standen, fand am Mittwoch auf der Insel der größte Streik seit über zehn Jahren statt. Mehrere hunderttausend Lehrer, Lokführer, Beamte, Dozenten und Sicherheitskräfte diverser Gewerkschaften gingen landesweit auf die Straße, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.
Briten fürchten sich vor einem „Winter des Unmuts“
Angesichts des Ausmaßes der Arbeitskämpfe werden auf der Insel Vergleiche mit dem „Winter des Unmuts“ in den Jahren 1978 und 1979 gezogen, für Briten ein geflügelter Ausdruck. Damals legten Tausende im Kampf um bessere Löhne ihre Arbeit nieder. Müllberge und der Stillstand des Transportwesens führten 1979 schließlich zum Sturz der Labour-Regierung. Aus Sicht der Öffentlichkeit wurden die Gewerkschaften damals zunehmend zum Beherrscher von Land und Wirtschaft. Die neu gewählte konservative Premierministerin Margaret Thatcher schränkte deren Macht daraufhin massiv ein.
Auch diesmal könnten die Streiks den Abstieg der Regierung beschleunigen, glauben Experten, allerdings unter anderen Vorzeichen. Schließlich hat sich der Unmut im öffentlichen Dienst angebahnt. War dieser durch viele Sparmaßnahmen nach zwölf Jahren Tory-Regierung am Limit, haben die Pandemie, gefolgt von der Inflation und der steigenden Lebenshaltungskostenkrise, das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Die staatlichen Arbeitnehmer fühlen sich angesichts der Belastungen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht wertgeschätzt. Und: Viele Briten verstehen das.
Viele Briten hegen Sympathie für die Streikenden
Früher nutzen die Tories Streiks, um gegen die Labour-Partei wegen ihre Nähe zu den Arbeitnehmervertretern Stimmung zu machen. „Dieses Mal haben sich die Sympathien der Öffentlichkeit jedoch verschoben. Es ist nicht mehr so einfach, den Buhmännern der Gewerkschaften die Schuld zu geben“, kommentierte die Online-Zeitung Politico die Lage. Laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov unterstützen 65 Prozent der Briten die Streiks des Pflegepersonals, immerhin 47 Prozent jene der Lehrer.
Viele Menschen klagen zwar über die Arbeitsniederlegungen, dass die britische Bevölkerung jedoch nicht lauter aufbegehrt, sei tatsächlich bemerkenswert, betonte auch Joelle Grogan von der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“ gegenüber unserer Redaktion. Sie begründet die Unterstützung damit, dass Arbeiter im Öffentlichen Dienst, allen voran Krankenpfleger sowie Lehrer, gesellschaftlich hoch angesehen seien – auch infolge der Pandemie.
Dies bestätigt auch Ronak Giuntini, eine Lehrerin, die am Mittwoch an den Demonstrationen in London teilnahm. „Die meisten Eltern unterstützen uns. Nach der Phase der Lockdowns, in der sie ihren Kindern beim Online-Unterricht helfen mussten, wissen sie, dass dies kein leichter Job.“ Ihr sei aber auch bewusst, dass manche Medien ein anderes Bild zeichnen. Die Boulevardzeitung Daily Mail bezeichnete die Ausstände am Mittwoch als „zynisch“ und als „Verrat an unseren Kindern“.
Die Streikenden eint die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Prozent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen, doch das Lohnangebot der Regierung liegt deutlich darunter. Lehrerinnen und Lehrer etwa sollen fünf Prozent mehr erhalten. Viel zu wenig, schimpfte die zuständige Gewerkschaft NEU. Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden.
Streiks in Großbritannien: Premierminister Rishi Sunak lehnt Lohnerhöhungen ab
Bislang beharrt Premierminister Rishi Sunak auf seinem Standpunkt, dass die geforderten Lohnerhöhungen nicht möglich seien, weil sie die Inflation noch weiter in die Höhe treiben würden. Gleichzeitig haben die Tories einen Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht, der nun vom Oberhaus geprüft wird. Er soll die Gewerkschaften zwingen, eine Grundversorgung sicherzustellen, etwa bei Rettungs- und Sicherheitskräften oder der Bahn. „Wie hoch diese sein muss, könnte die Regierung dann im Alleingang bestimmen“, erklärte Joelle Grogan. Laut Experten spielen die Tories überdies auf Zeit. Sie hoffen darauf, dass der Rückhalt für die Streiks in der Bevölkerung sinkt, je länger sie dauern. Britische Gewerkschaften haben indes weitere Ausstände angekündigt, im März und im April.
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