Die mühsam verhandelte Waffenruhe im Gazastreifen könnte jeden Moment enden: Am Montagabend verkündete die Hamas, sie werde bis auf Weiteres keine israelischen Geiseln mehr freilassen, da Israel das Abkommen verletzt habe. Ein Hamas-Sprecher warf der israelischen Armee vor, sie habe Hilfslieferungen behindert, das Feuer auf Zivilisten eröffnet und die Rückkehr palästinensischer Binnenflüchtlinge in den Norden Gazas verzögert.
Die härteste Reaktion auf die Mitteilung der Hamas kam am Dienstag aus Washington: US-Präsident Donald Trump setzte den Islamisten ein Ultimatum. Er sprach sich dafür aus, die zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation ausgehandelte Waffenruhe aufzukündigen, falls nicht alle verbliebenen Geiseln bis Samstagmittag um 12 Uhr frei sein sollten. Ansonsten „bricht die Hölle los“, sagte Trump. Welche konkreten Konsequenzen die Hamas von US-Seite zu befürchten hätte, ließ Trump offen. Die Entscheidung liege aber letztlich bei Israel. „Ich spreche nur für mich“, sagte der Republikaner. Israel könne sich darüber hinwegsetzen.
Für die Angehörigen der Hamas-Geiseln bedeutet die Verzögerung ein Schock
Eigentlich hätte die Hamas am kommenden Samstag die nächste Gruppe von Geiseln übergeben sollen. Für die Angehörigen der Entführten bedeutet die angedrohte Verzögerung ein Schock. Die letzten freigelassenen Geiseln, drei Männer zwischen 34 und 56 Jahren, waren extrem blass und abgemagert aus Gaza zurückgekehrt und haben seitdem von physischer und psychologischer Folter berichtet. Israels Verteidigungsminister Israel Katz warf der Hamas vor, mit ihrer Drohung ihrerseits gegen die Vereinbarung zu verstoßen. Israels Armee, die IDF, hat seitdem ihren Bereitschaftsgrad erhöht und den Urlaub für Kampfsoldaten und operative Einheiten in dem für Gaza zuständigen Südkommando abgesagt.
Der Sicherheitsexperte Kobi Michael vom Institut für nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv zeigt sich von den Drohungen der Hamas nicht überrascht. „Die Hamas will mit ihrer Drohung Stärke und Präsenz zeigen und mehrere Botschaften senden“, sagte er dieser Zeitung. „Eine Botschaft ist gerichtet an die palästinensische Gesellschaft: Wir sind hier, wir stellen uns gegen den zionistischen Feind. Das ist auch eine Botschaft an die Palästinensische Autonomiebehörde und andere Akteure, die die Hamas in Gaza ersetzen wollen. Außerdem will die Hamas auf diese Weise die Spaltung zwischen der israelischen Gesellschaft und der Regierung vertiefen.“
70 Prozent der Israelis setzen auf die Waffenruhe in Gaza
Laut einer aktuellen Umfrage des Israel Democracy Institute, einer liberalen Denkfabrik, wollen 70 Prozent der Israelis, dass die Waffenruhe hält und in die sogenannte zweite Phase übergeht, in der die Hamas die übrigen Geiseln – beziehungsweise ihre Leichen – an Israel übergeben soll. Noch befinden sich 76 Geiseln in den Händen der Terroristen, wobei israelischen Informationen zufolge mindestens 35 von ihnen nicht mehr am Leben sind. Viele Kritiker des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu fürchten, dass dieser kein Interesse an einer langfristigen Waffenruhe in Gaza haben könnte – selbst wenn dies bedeuten würde, die verbliebenen Entführten zu opfern. Tausende Menschen demonstrieren seit vielen Monaten jeden Samstag in Tel Aviv für Kompromisse mit der Hamas, um sämtliche Geiseln nach Hause zu holen.
„Vor allem aber versucht die Hamas, Zeit zu gewinnen, indem sie eine Krise erzeugt“, glaubt Kobi Michael. „Sie versucht, die erste Phase der Waffenruhe zu verlängern und den Preis für jede zusätzliche Geisel, die sie freilässt, zu erhöhen.“ Für jede befreite israelische Geisel entlässt Israel der Einigung zufolge Hunderte palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen, darunter verurteilte Mörder und Attentäter. Der wahre Test steht dem Experten zufolge kommenden Samstag an: Dann werde sich zeigen, ob die Hamas tatsächlich keine Geiseln freilasse und damit das Abkommen breche. In einem solchen Fall, meint Michael, müsse Israel den Kampf gegen die Hamas mit aller Kraft wieder aufnehmen.
Experte Kobi Michael hält die Zerschlagung der Hamas für unerlässlich
Doch selbst wenn die erste Waffenruhe wie geplant über sechs Wochen lang hält und die Hamas wie vereinbart in dieser Zeit insgesamt 33 Geiseln freilässt, rechnet er nicht damit, dass die Waffenruhe anschließend in die zweite Phase übergeht. „Für Israel muss am Ende der zweiten Phase die Zerschlagung der Hamas als Organisation stehen: Die Hamas darf Gaza nicht kontrollieren. Für die Hamas dagegen bedeutet die zweite Phase, dass sie an der Macht bleibt und die IDF sich komplett aus Gaza zurückzieht“, sagt Kobi Michael. „Diese Kluft lässt sich nicht überbrücken.“ (mit dpa)
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