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Foto: Swen Pförtner, Imago
Foto: Swen Pförtner, Imago

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger fordert Pragmatismus an den Schulen, damit die ukrainischen Kinder unterrichtet werden können.

Interview
21.05.2022

"Die ukrainischen Kinder brauchen wieder etwas Normalität"

Von Christian Grimm, Bernhard Junginger

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ruft pensionierte Lehrer auf, zurück in den Dienst zu kommen, um ukrainische Kinder zu unterrichten.

Frau Stark-Watzinger, mehr als 700.000 Geflüchtete aus der Ukraine sind inzwischen in Deutschland registriert, darunter sind viele Kinder. Wie läuft ihre Integration in die deutschen Schulen?

Bettina Stark-Watzinger: Das ist natürlich eine Herausforderung. Wir wollen den Kindern und Jugendlichen, die zu uns kommen, nicht nur Schutz geben, sondern auch eine Perspektive. In den Ländern wird das unterschiedlich gehandhabt, teils werden die Kinder in Willkommensklassen aufgenommen und teils direkt in die regulären Klassen integriert. Wichtig ist, dass sie überhaupt in die Schule gehen, denn diese Kinder brauchen wieder etwas Normalität, sie haben oft Traumata erlitten. Sie müssen mal wieder lachen können, Freunde finden und auch ihre Sorgen, etwa um die Väter, zumindest zeitweise vergessen.

Aber wie soll das gelingen, wenn schon jetzt an vielen deutschen Schulen Lehrkräfte fehlen?

Stark-Watzinger: Da müssen alle Beteiligten ganz pragmatisch an Lösungen arbeiten. Lehrerinnen und Lehrer, die schon im Ruhestand sind, können sich wieder einbringen. Und wir müssen die Lehrkräfte, die aus der Ukraine zu uns kommen, zügig in den Unterricht bringen. Da ist natürlich die Sprache eine Barriere. Aber ich erlebe vor Ort, dass sofort eine Einbindung stattfindet, etwa als Lehr- oder Unterstützungskraft. Die sprachliche und ergänzende Qualifizierung erfolgt dann später. Mein Eindruck ist, dass das auf einem guten Weg ist, auch wenn es hier und da rumpeln wird.

Bisher ist es ja so, dass ukrainische Kinder oft Online-Unterricht aus ihrer Heimat bekommen. Werden die geflüchteten ukrainischen Kinder nach den Sommerferien regulär in die deutschen Schulen gehen oder werden sie weiter diesen Fernunterricht bekommen?

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Stark-Watzinger: Grundsätzlich gilt die Schulpflicht sehr schnell, wenn man nach Deutschland kommt. Und ich halte das auch für richtig, damit Kinder schnell eine Perspektive bekommen. Bei den aus der Ukraine Geflüchteten haben die meisten Bundesländer gewisse Übergangszeiten ermöglicht. Am besten ist, wenn sie neben dem deutschen Schulunterricht ergänzend auch digitalen Unterricht aus der Ukraine haben. Das ist vor allem für die Schülerinnen und Schüler wichtig, die kurz vor ihrem Abschluss stehen. Denn wir hoffen das Beste, dass der Krieg auf absehbare Zeit zu Ende und eine Rückkehr möglich ist. Aber wir müssen uns auch darauf vorbereiten, dass sie länger bei uns bleiben.

Wie geht es also konkret weiter?

Stark-Watzinger: Darüber sprechen wir gerade mit den Ländern und wir sind auch mit dem ukrainischen Bildungsminister in einem intensiven Austausch. Sein Ministerium berichtet wöchentlich darüber, wie viele Schulen in der Ukraine beschädigt oder zerstört wurden. Ich habe größten Respekt davor, wie die Ukraine mit dieser Situation, in der sie um das Überleben kämpft, umgeht und der Bildung einen so hohen Stellenwert zumisst. Wir müssen daher eine gute Balance zwischen der Integration in unser Bildungssystem und der Bewahrung der ukrainischen Identität finden.

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Foto: Marco Keitel
Foto: Marco Keitel

Willkommensklassen für ukrainische Geflüchtete in der Kerschensteiner-Schule in Augsburg.

Die Länder sagen dem Bund aber gerne mal, wir nehmen gern dein Geld, aber wie wir das machen, das lass unsere Sache sein...

Stark-Watzinger: Für die Bildung sind sie ja auch zuständig. Wir haben als Bund sehr schnell gehandelt und eine Milliarde Euro auch für Kinderbetreuung und Bildung zur Verfügung gestellt. Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, nimmt derzeit ab. Deswegen schauen wir jetzt gemeinsam, was die Menschen aus der Ukraine jetzt für Angebote brauchen.

Die Erwachsenen, die aus der Ukraine kommen, werden von der Wirtschaft mit sehr offenen Armen empfangen. Aber es gibt teils Probleme mit der Sprache oder der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Wo besteht da Handlungsbedarf?

Stark-Watzinger: Wenn man mit den Menschen spricht, die zu uns kommen, sagen sie drei Dinge. Der erste Satz ist meistens, ‚Wir wollen wieder zurück', der zweite ‚Wir wollen keine Opfer sein‘. Und der dritte Satz ist: ‚Wo kann ich arbeiten?‘ Wir müssen deshalb den Einstieg in Arbeit ganz schnell ermöglichen, etwa indem wir Verfahren beschleunigen. Als Bundesbildungsministerium verantworten wir die Anerkennung von Berufsabschlüssen. Hier brauchen wir mehr Standardisierung und Vereinheitlichung in den Ländern, beispielsweise welche Unterlagen in welcher Form. Zudem sollten wir pragmatische Lösungen finden nach dem Prinzip ‚Arbeit aufnehmen und dann begleitend nachqualifizieren‘. Sprachkenntnisse sind dabei besonders wichtig. Deshalb fördern wir sie etwa durch kostenfreie Online-Angebote an den Volkshochschulen.

Besteht eine Vergleichbarkeit zwischen deutschen und ukrainischen Abschlüssen? Gibt es in der Ukraine ein ähnliches Berufsbildungssystem?

Stark-Watzinger: Berufliche Bildung ist eine deutsche Besonderheit, die es nur in wenigen Ländern gibt. Dafür gibt es dort sehr viel Ausbildung an Hochschulen. In Deutschland ist ein ganz großer Teil der Berufe nicht reglementiert, das heißt, dass keine Anerkennung notwendig ist. Und dann gibt es die reglementierten Berufe, etwa im medizinischen Bereich. In beiden Bereichen haben wir Verfahren entwickelt, wenn beispielsweise Nachweise nicht erbracht werden können. Menschen, die vor Krieg fliehen, gehen ja nicht erst in den Keller und holen Zeugnisse und Dokumente.

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Foto: Uncredited, AP/dpa
Foto: Uncredited, AP/dpa

Kriegszerstörungen in Mariuopol. Wie schnell die Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren können, weiß derzeit keiner zu sagen.

Noch einmal zurück zur Schule. Die FDP hat im Wahlkampf die Bildungsgerechtigkeit ins Zentrum gerückt. In Deutschland hängt der Bildungserfolg maßgeblich vom Elternhaus ab. Welche Möglichkeiten haben Sie, das zu ändern?

Stark-Watzinger: Wie sozial ein Land ist, erkennt man nicht allein an der Höhe der Sozialausgaben, sondern daran, welche Lebenschancen es eröffnet. Diese Lebenschancen zu geben, ist die höchste Form des Respekts, den wir gegenüber dem Einzelnen aufbringen können. Wir haben dazu im Koalitionsvertrag wichtige Leuchtturmprojekte verankert, das Startchancen-Programm zum Beispiel. Es soll gezielt bis zu 4000 Schulen in schwierigem Umfeld stärken, um sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern bessere Bildungschancen zu geben. Das heißt, dass wir dort eine gute Infrastruktur schaffen, ein Chancenbudget vorsehen und mehr Sozialarbeit ermöglichen.

Wir hören aus dem Finanzministerium, dass Ihnen Ihr Parteichef und Finanzminister Christian Lindner die benötigten Mittel nicht geben will. Sie wollen 30 Milliarden Euro und sollen nur 21 Milliarden bekommen.

Stark-Watzinger: Nach den Plänen der alten Bundesregierung sollten die Gelder für Bildung und Forschung über die nächsten Jahre abfallen. Jetzt haben wir mit Christian Lindner steigende Mittel verabredet. Das ist schon mal ein guter Anfang. Wir schauen auch im Haus, wie wir das Geld, das wir haben, zielgerichteter und effizienter einsetzen können. Ich bin optimistisch, dass wir das Startchancen-Programm finanzieren können. Schließlich steht es im Koalitionsvertrag. Und es ist aufgrund der Lernrückstände durch die Corona-Pandemie wichtiger denn je.

Für Studenten kommt eine Reform der Ausbildungsförderung. Was ändert sich?

Stark-Watzinger: Den kontinuierlichen Rückgang der Gefördertenzahlen wollen wir nicht länger hinnehmen. Deshalb öffnen wir das Bafög. Die Einkommensgrenzen für die Eltern beispielsweise waren bisher sehr niedrig. Das passen wir an. Damit holen wir das Bafög wieder in die Mitte der Gesellschaft. Wir heben auch die Fördersätze an und nehmen strukturelle Veränderungen vor, etwa bei der Altersgrenze – künftig 45 Jahre. Und wir ergänzen jetzt auch einen dauerhaften Notfallmechanismus. Wenn Studierende, die bisher keinen Anspruch auf Bafög haben, künftig in einer Krisensituation ihren Nebenjob verlieren, müssen sie ihr Studium deshalb nicht mehr abbrechen. Sie können dann vorübergehend Bafög bekommen. Parallel werden wir eine Exzellenzinitiative berufliche Bildung starten. Das ist das klare Signal der Gleichwertigkeit von Studium und Ausbildung in unserem Land. Wir haben so eine tolle duale Ausbildung, dafür muss man in anderen Ländern studieren, um so eine Qualifikation zu erwerben.

Sie verantworten auch den Bereich Forschung. Der Krieg in der Ukraine hat den Blick ja auch ganz stark auf den Bereich Energie gelenkt. Welche Anstrengungen sind in diesem Bereich der Forschung nötig?

Stark-Watzinger: Unser Auftrag in Deutschland und Europa muss sein, Souveränität anzustreben. Aber nicht im Sinne von Autarkie, das wäre gar nicht möglich, sondern im Sinne von Unabhängigkeit. Wir müssen frei entscheiden können, mit wem wir Handel treiben und mit wem wir zusammenarbeiten. Es ist gut, dass wir jetzt erst einmal die Abhängigkeit von Russland reduzieren, auch mit Gas aus Katar. Gleichzeitig müssen wir die Nachhaltigkeit im Blick behalten. Deshalb setzen wir im Rahmen der nationalen Wasserstoffstrategie auf Partnerschaften mit Ländern wie Australien.

Warum Australien?

Stark-Watzinger: Australien hat ausreichend Sonne, Wind und die Fläche, das Land hat auch die technischen Hochschulen, das Know-how und die Fachkräfte. Unsere Machbarkeitsstudie HySupply zeigt, dass eine Lieferpartnerschaft technisch möglich ist und große Chancen bietet. Die Kosten für den Transport sind trotz der großen Distanz überschaubar. Insofern ist Australien für uns der erste wichtige Partner. Deshalb fahre ich nächste Woche dort hin. Australien kann zum großen Exporteur von Grünem Wasserstoff werden, den wir hier brauchen.

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