"Wie kann man einen klaren Kopf bekommen in diesen turbulenten Zeiten, wenn wir uns die politischen Entwicklungen und auch die Kirche anschauen?", fragt am Dienstagmorgen der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Er fragt: "Haben wir vielleicht in der Vergangenheit zu sehr um Worte gestritten und uns weniger um die Praxis des Glaubens, der Liebe und damit den Anbruch des Reiches Gottes gekümmert?"
So also predigt Marx in der oberfränkischen Barock-Basilika Vierzehnheiligen bei Bad Staffelstein. Dort, in einer Gegend, die "Gottesgarten" genannt wird, treffen sich gerade die deutschen katholischen Bischöfe zu ihrer Frühjahrs-Vollversammlung. Es ist ein Treffen in Krisenzeiten - und zu diesen Krisen zählt auch die der katholischen Kirche in Deutschland. Es ist eine Krise, die die Bischöfe seit Jahren begleitet - nun nach Vierzehnheiligen.
Münchner Betroffenenbeirat wirft Erzbischof Marx "Untätigkeit" vor
Die Pressestelle der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) hat am frühen Morgen eine Pressemitteilung zu Marx' Predigt verschickt, wenig später verdrängt bereits eine andere Nachricht die Worte des früheren DBK-Vorsitzenden: Richard Kick, Mitglied des unabhängigen Betroffenenbeirats im Erzbistum München und Freising, kritisiert Marx im Namen des Gremiums scharf. Dieser habe nach der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens für seine Diözese Mitte Januar "keinerlei Aktivitäten" gezeigt.
Aus zahlreichen Gesprächen mit Kirchenmitarbeitern, Verantwortlichen von kirchlichen Gremien und Gläubigen höre man die Sorge und Ratlosigkeit darüber. "Wir als Betroffene sind entsetzt ob dieser Untätigkeit", sagt Kick.
In einem offenen Brief des Betroffenenbeirats, der auf Montag datiert, werden die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle, Akteneinsicht, angemessene finanzielle Entschädigungen und eine Stärkung des Betroffenenbeirats durch personelle und finanzielle Mittel gefordert. Vor allem, und gleich im ersten von fünf Punkten, heißt es: "Treten Sie in persönlichen Kontakt mit den für ihr Leben geschädigten und traumatisierten Betroffenen."
Reinhard Kardinal Marx – ein Seelsorger, der sich nicht sorgt?
Marx, der in starken Worten immer wieder beteuerte, handeln zu wollen und verstanden zu haben, dürfte das schwer treffen. Der Verdacht, seine Worte stünden nicht im Einklang mit seinen Taten, verfolgt ihn bereits länger. Nun also wirft ihm sein eigener Betroffenenbeirat Empathielosigkeit im Umgang mit Missbrauchsopfern vor und fordert ihn auf, "aktiv, zielführend und sehr zeitnah zu handeln. Um das Leid der überaus großen Zahl an Opfern sexualisierter Gewalt nicht noch weiter zu vergrößern, ist es an der Zeit, sie auch endlich empathisch wahrzunehmen".
Marx sagte eine Woche nach der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens, er wolle "ein lernender Bischof" sein - nun erscheint er als ein Bischof und Seelsorger, der sich nicht sorgt. Umso mehr liegt der Fokus der Öffentlichkeit damit auf dem für 13 Uhr anberaumten Pressegespräch. Vorgestellt wird - ohne Marx - ein "Wort der deutschen Bischöfe zur Seelsorge" mit dem Titel "In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“.
Bischöfe wollen "geistlichen und sexuellen Missbrauch in seelsorglichen Kontexten von Erwachsenen" stärker wahrnehmen
Auch darin spielt das Thema "Missbrauch" eine Rolle. Für den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, Vorsitzender der Pastoralkommission der DBK, geht es bei der Aufarbeitung von Missbrauch in seelsorglichen Kontexten um nichts weniger als die Glaubwürdigkeit kirchlicher Seelsorge. Das Seelsorgepapier setze hier Maßstäbe.
Erstmals werde in einer Verlautbarung der Deutschen Bischofskonferenz der Versuch unternommen, "geistlichen und sexuellen Missbrauch in seelsorglichen Kontexten von Erwachsenen wahrzunehmen" und "Maßnahmen zum Schutz vor Missbrauch in der Seelsorge zu ergreifen". Als weiterer Schritt müsse dies nun in diözesanen Richtlinien sowie in die Aus- und Fortbildung der Seelsorger und Seelsorgerinnen aufgenommen werden.
Damit nehmen die Bischöfe nach langjährigen Aufarbeitungsbemühungen eine Gruppe von Missbrauchsbetroffenen in den Blick, die sie bislang trotz anhaltender öffentlicher Kritik daran kaum im Blick hatten. Bei der Aufarbeitung geistlicher und sexualisierter Gewalt in der Frauen- und Männerseelsorge stehe man "noch ganz am Anfang", sagt Kohlgraf und betont, "dass es für sexualisierte Nähe und Kontakte in seelsorglichen Kontexten keine Toleranz gibt".
Bischof Kohlgraf: "Ich glaube, dass es wichtig ist, sowohl strafrechtlich als auch kirchenrechtlich da für eine Klarheit zu sorgen"
Die Bischöfe verbinden das mit der Aufforderung, derartige Fälle bei den zuständigen Staatsanwaltschaften wie auch innerkirchlich anzuzeigen - "auch wenn im Strafgesetzbuch § 174c bei der Aufzählung professioneller Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisse, in denen sexuelle Handlungen strafbar sind, das seelsorgliche Verhältnis nicht erwähnt wird".
Auf Nachfrage, ob das als Forderung an den Gesetzgeber zu verstehen ist, das "seelsorgliche Verhältnis" in den Paragrafen mit aufzunehmen, antwortet Kohlgraf: "Ich glaube, dass es wichtig ist, sowohl strafrechtlich als auch kirchenrechtlich da für eine Klarheit zu sorgen." Genau wie eine Beratungssituation, eine Therapiesituation sei auch eine seelsorgliche Begleitung eine professionelle Situation.
Diese Ausführungen sind auch interessant mit Blick auf den Fall eines freigestellten Memminger Geistlichen, gegen den "wegen des Verdachts sexueller Grenzüberschreitungen“ der innerkirchliche Gerichtsweg in erster Instanz beschritten wird.
Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller hatte dazu unserer Redaktion gesagt, der Fall sei paradigmatisch für „geistlichen Missbrauch“, weil der Priester offenkundig "eine seelsorgliche Notlage einer Jugendlichen" ausgenutzt habe. Die junge Frau wirft dem Priester dies vor. Nach ihrer Volljährigkeit habe er dann ein sexuelles Verhältnis mit ihr gehabt. Die staatliche Justiz hat ihre Ermittlungen bereits eingestellt.
Die Frühjahrs-Vollversammlung geht noch bis Donnerstag. Am Mittwoch wird sich unter anderem der Augsburger Bischof Bertram Meier als Vorsitzender der Kommission Weltkirche zur politischen und kirchlichen Situation in der Ukraine äußern.