Auch im Protest auf der Straße liegt die Stärke der Demokratie
Die Zahl der Demonstrationen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Viele davon muss man kritisch sehen, doch ohne Widerspruch wäre unser Land ärmer.
Nein, Max Weber war kein Schreiner und es ist auch nicht überliefert, ob er einen schummrigen Hobbykeller hatte, in dem eine Werkbank stand. Trotzdem – als der Gründervater der Soziologie einmal erklärte, wie Macht in einer Demokratie funktioniert, wurde er plötzlich handwerklich: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Politik war dabei schon immer mehr als Handwerk mit Schlips, in Parlamenten, mit Redemanuskript in der Hand statt Akkuschrauber. Politik nimmt sich auch auf der Straße ihren Raum. Statistiken deuten darauf hin, Experten wie der Bewegungsforscher Dieter Rucht bestätigen: Die Zahl der Demonstrationen in Deutschland ist in den vergangenen Jahren gestiegen. In Augsburg fanden 2021, laut Polizeipräsidium Schwaben Nord, fünf Mal mehr Versammlungen statt als 2016. Ein Phänomen mit gewissen Risiken – aber auch Chancen.
Versammlungsfreiheit reicht manchmal bis an die Schmerzgrenze
Alle vier Jahre seine Kreuzchen für den Bundestag geben, zwischendrin der Landtag, dann europäische und kommunale Wahlen? Vielen genügt das nicht. Und da zeigt sich die Schönheit unseres Systems in der Freiheit, Meinung öffentlich zu äußern, laut und sichtbar. Was in jüngster Zeit zu amüsanten Häufungen führt: Achtung, bitte bremsen, gleich rollt die nächste Demo vorbei. Morgens Solidarität mit der Ukraine, nachmittags Klima, später die obligatorische Anti-Corona-Regel-Demo. Ach ja? Tatsächlich, immer noch.
Vorweg: Natürlich verletzt und spaltet es eine Gesellschaft, wenn abgedrehte, gefährliche Thesen auf der Straße ein Publikum finden. Das unfundierte Gemunkel von Weltverschwörung, Meinungsdiktatur und staatsgelenkten Medien. Unerträglich sind gerade auch die Bilder von Autokorsos mit russischen Fahnen, die Hupkonzerte für einen Kriegsaggressor. Manchmal reicht die Versammlungsfreiheit bis an die Schmerzgrenzen und auch darüber hinaus. Aber aus diesen Problembeispielen sollte kein genereller Missmut wachsen.
Wer demonstriert, muss auch Verantwortung zeigen
Schließlich regelt Artikel 8 im Grundgesetz diese Freiheit: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Aber wer unter freiem Himmel, im Demo-Kollektiv, marschieren will, muss eben vorab die zuständige Behörde informieren. Auch das ist Gesetz. Politisch auf die Pauke hauen wollen, aber es „Spaziergang“ nennen? Anonym, ohne mit einem Namen Verantwortung zu übernehmen? Peinlich und potenziell gefährlich. Das Recht bietet doch die legale Option.
Diese volle Freiheit verweigerte die Diktatur der DDR ihren Bürgerinnen und Bürgern – und trotzdem versammelten sich Mutige zu Montagsdemonstrationen, die einen kräftigen Stoß zur Wiedervereinigung beitrugen. Was zeigt: Demos wirken, auch im Guten.
Von FFF bis Anti-AKW: Widerspruch ist der Motor einer Demokratie
Jahre später wurde Fukushima zum Schock, der Deutschland von der Kernkraft abbrachte. Trotzdem wäre der Ausstieg undenkbar gewesen ohne die Anti-Atomkraft-Bewegung und ihren hartnäckigen Fingerzeig auf die Risiken. Die Atom-Frage bleibt spannend, angesichts neuer Energienöte kommt sie abermals auf. Wird sich da wieder etwas auf den Straßen rühren?
Fridays for Future muss sich heute der kritischen Betrachtung stellen, auch den komplexen Fragen der Machbarkeit. Aber: Wäre Klimaschutz ohne diesen Protest auf dem Radar der Parteien aufgetaucht? Mit existenziellem Ernst? Sehr fraglich.
Widerspruch ist eben der Motor einer Demokratie. Und vielleicht ist Protest auf der Straße ja manchmal auch der Extra-Antrieb in der Bohrmaschine, den es braucht, um die wirklich harten politischen Bretter anzupacken.
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