Gut eine Woche nach Amtsantritt verheddern sich die Ampelparteien im Kleinklein. Ist der Elan aus den Verhandlungsrunden schon wieder verflogen?
Hat Deutschland keine anderen Sorgen? Im Januar wird der Impfstoff wieder knapp, die Forschungsinstitute korrigieren ihre Konjunkturprognosen in Serie nach unten – und ein paar Flugstunden von Berlin entfernt steht das russische Militär einmarschbereit an der ukrainischen Grenze. Womit aber beschäftigen sich die Ampelparteien? Sie ändern die Sitzordnung im Bundestag, weil die Liberalen nicht mehr neben der AfD sitzen wollen.
Den Streit um den Innenausschuss hat die Ampel selbst heraufbeschworen
Gemessen an den großen Erwartungen, die sie selbst befeuert hat, agiert die neue Bundesregierung in ihren ersten Tagen im Amt ausgesprochen ungelenk. Macht erst einmal 60 Milliarden Euro an neuen Schulden, obwohl die FDP und ihr Finanzminister doch für finanzielle Solidität stehen wollen. Schafft fast 180 neue (und teure) Planstellen in ihren Ministerien, obwohl die schon jetzt alles andere sind als unterbesetzt. Verzettelt sich in einem sinnlosen Streit über den Umgang mit der AfD, als hänge die Qualität der politischen Arbeit davon ab, ob eine Fraktion im Plenum fünf Meter weiter rechts oder links sitzt. Auch die Aufregung über die Besetzung des Innenausschusses, dessen Vorsitz an die Rechtspopulisten gehen soll, ist nicht frei von Heuchelei. Sozialdemokraten, Grüne und Liberale hätten beim Verteilen der Ausschussvorsitze das Innere auch für sich reklamieren können, keine der drei Regierungsfraktionen aber hat es es getan.
Komplettiert wird das Bild von einer Koalition, der noch der Blick für das Wesentliche fehlt, durch die erste Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers. Statt die großen Linien seiner Politik zu formulieren, arbeitete Olaf Scholz monoton und gewohnt detailversessen die wichtigsten Punkte aus dem Koalitionsvertrag ab. Angela Merkel hat das in ähnlichen Situationen zwar ähnlich gehalten, der Anspruch der Ampel allerdings ist ein anderer. Sie ist mit dem Versprechen angetreten, das Land aus seiner Lethargie zu reißen und mehr Fortschritt zu wagen. Der Kampf gegen die Pandemie überlagert im Moment zwar alles – von dem Elan jedoch, mit dem die drei Parteien nach der Wahl in ihre Sondierungsgespräche gestartet sind, ist nicht mehr viel zu spüren.
Robert Habeck bastelt noch an seinem Nebenkanzleramt
Dass es auch anders geht, hat ausgerechnet die sonst so träge SPD nach der Wahl 2013 gezeigt. Während die Kollegen von der Union noch dabei waren, ihre Büros zu beziehen und ihre Mitarbeiterstäbe zu komplettieren, hatte die neue Sozialministerin Andrea Nahles bereits nach wenigen Wochen eine große Rentenreform mit der erweiterten Mütterrente und der Rente mit 63 entworfen. Robert Habeck dagegen, von seinem Selbstverständnis und seinem Einfluss her gesehen so etwas wie der Nahles der Ampel, ist bisher vor allem damit beschäftigt, sein Ministerium zu einer Art Nebenkanzleramt auszubauen. Verglichen mit seiner Energiewende aber war ihre Rentenreform nur ein politischer Klacks.
Natürlich braucht jedes neue Bündnis Zeit, sich zu sortieren. Wenn Hermann Hesse allerdings Recht hat, nach dem jedem Anfang ein Zauber innewohnt, dann ist in den wenigen Tagen seit der Vereidigung von Olaf Scholz und seiner Ministerriege schon vieles vom neuen deutschen Ampelzauber verflogen. Die Union will Lindners Schuldenhaushalt ganz prosaisch vom Verfassungsgericht überprüfen lassen, den Grünen sitzt die Klimabewegung im Nacken – und die SPD wirkt immer noch wie berauscht vom eigenen Erfolg. Oder ist das mit der Fortschrittskoalition, die Deutschland so grundlegend verändert wie seit 100 Jahren nicht mehr, am Ende nur ein großes Missverständnis? „Sie dachten“, soll Kurt Tucholsky einst gespottet haben, „sie wären an der Macht. Dabei waren sie nur an der Regierung.“
Die Diskussion ist geschlossen.
@GEORG KR. 16:22 Uhr: Ein paar kurze Hinweise:
Seehofer und Stoiber sind Politiker der Vergangenheit, wobei Seehofers Karriere (angefangen im mittleren Verwaltungsdienst im Landratsamt) schon beeindruckend ist. Beide weisen meines Wissens kein Schuljahr und kein Studium im englischsprachigen Ausland in ihrem Lebenslauf aus. Gut, bei Stoiber kritisieren Sie sein Deutsch. Sei's drum.
Im Interesse einer Einigung kein Widerspruch. Bei Daniel Cohn-Bendit sogar volle Zustimmung. Mit seiner Aussage, dass die Überprüfung von Ausgabepositionen im Haushalt noch nie sonderlich ergiebig war, hat er eigentlich die größte Wahlkampflüge der FDP entlarvt. (Kommt in etwa der von Armin Laschet mit seiner "Entfesselung der Wirtschaft" gleich, nachdem er gerade mehr als 900 Stellen in den Ministerien in NRW geschaffen hat.)
Warum fällt mir ausgerechnet im Zusammenhang mit der Diskussion über Frau Baerbock's Englisch ein weiterer Politiker der Vergangenheit, der CSU-Übervater FJS, ein, dem ein ziemlicher Standesdünkel ja nicht abgesprochen werden konnte. Und der einen RCDS-Studenten einmal fragte "Sagen Sie mal, haben Sie überhaupt das Abitur?". Als der meinte, das hätte mit der Sache (RCDS-Internas) nichts zu tun, stach Strauß mit dem Zeigefinger in Richtung des Studenten und blaffte: "Ich will wissen, ob Sie das Abitur haben."
Wenn ich Cohn-Bendit richtig verstanden habe, machte er deutlich, dass einzelne Ausgabepositionen nicht so einfach gegeneinander abzugrenzen sind. Zum Beispiel entstehen bei einem Ausbau der Digitalisierung Kosten im Gesundheitswesen genauso wie im Kampf gegen den Klimawandel und im Bildungsbereich.
@GEORG KR. 19.12.2021 14:11 Uhr:
Das waren noch andere Zeiten, die damals mit Strauß (CSU) und Herbert Wehner (SPD). Der Deutschlandfunk schreibt, dass „Pöbel-Herbert“ den politischen Gegner auch schon mal als „Selbstbefriediger“ bezeichnete (https://www.deutschlandfunk.de/machtpolitiker-mit-ueberzeugungen-100.html). Dass Strauß wesentlichen Anteil an der überaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung im Freistaat Bayern hat (wohl einzigartig in Europa), sollte als erstes erwähnt werden, bevor man auf seine menschlichen Schwächen hinweist.
Um Zweifel auszuräumen habe ich mir die Sendung mit Maybrit Illner https://www.zdf.de/politik/maybrit-illner/corona-politik-in-der-krise-krise-der-politik-maybrit-illner-am-16-dezember-2021-100.html nochmals angesehen. Ich bleibe bei meiner Behauptung, und zwar aufgrund der der folgenden Zitate (so ungefähr ab 17. Minute):
„Das fand bis vor Kurzem sogar die FDP noch empörend.“ (Maybrit Illner)
„Jetzt einen Vorrat anzulegen für eine neue Koalition, das wäre nicht seriös.“ (Einspieler einer Aussage von Christian Lindner vor drei Wochen)
„Der [Christian Lindner] ist über den Tisch gezogen worden.“ (Daniel Cohn-Bendit)
„Man könnte sagen, man wollte sparen, aber das klappt nie, das wissen wir.“ (Daniel Cohn-Bendit)
"Dass Strauß wesentlichen Anteil an der überaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung im Freistaat Bayern
@ HELMUT EIMILLER
Das kann nicht bestritten werden. Wie auch, dass die überaus positive Entwicklung auch in seinen privaten Vermögensverhältnissen wie auch immer ihren Niederschlag fand . . .
Beim "Pöbeln" stand er Wehner nicht nach. "Ratten und Schmeißfliegen" nannte er kritische Schriftsteller; von seinen überaus guten Beziehungen zu Despoten und Diktatoren wie Pinochet ganz zu schweigen.
Lindner zu verteidigen, liegt mir ziemlich fern. Die diesbezügliche Kritik der neuen Opposition an der Ampel halte ich für pure Heuchelei. Wer selbst im Glashaus sitzt . . .
Es wird wohl noch einige Zeit brauchen bis sich die Ampelkoalition in der politischen Realwelt eingerichtet hat. Scholz Handlung ist bisher von Kontinuität in der Aussenpolitik gekennzeichnet. Einzig Frau Baerbock neigt dazu ihre grünen Flügel auszutesten. Bisher geschah alles nur im "freundlichen" Umfeld der EU, wobei Polen schon erste Akzente in Richtung Divergenz aufgezeigt hat. Ernst wird im Falle der Aussenpolitik erst im direkten Aufeinandertreffen der divergierenden Interessen im Fall Russlands und Chinas bei der Umsetzung werteorientierter Aussenpolitik. Da könnte durchaus zu Divergenzen in der Ampel zwischen und den Grünen kommen.
Der Münchner Merkur zum Englisch von Frau Baerbock:
"Dabei gab es nichts Handfestes, was unter die Kategorie „Fremdscham“ fallen könnte, denn die Grünen-Politikerin sprach auf der Pressekonferenz fehlerfreies Englisch. Dass sie neben einem grammatikalisch korrekten und soliden Auftritt auch den Mut hatte, bei einem internationalen Anlass live vor der Kamera Englisch zu sprechen, schien nur die Wenigsten zu interessieren. Schließlich wäre es für die neue Außenministerin eine selbstverständliche Option gewesen, Deutsch zu sprechen."
. . .
"Rückendeckung bekam Baerbock hingegen von denen, die die englische Sprache zweifelsohne am besten beherrschen. Englische Muttersprachler lobten die Außenministerin für ihr Englisch. Für die Kritik des deutschen Publikums an der Grünen-Politikerin zeigten sie kein Verständnis. CNN International-Korrespondent Frederik Pleitgen kommentierte das Englisch der Ministerin mit „Sieht für mich aus wie außergewöhnlich gutes Englisch“."
Um als Politikerin oder Politiker in den Genuss von Häme in den unsozialen Medien zu kommen braucht's nicht viel. Fragen Sie mal Baerbocks Vorgänger Heiko Maas.
Und soviel zum Aushebeln der Schuldenbremse und Schattenhaushalte unter Merkel:
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/sondervermoegen-merkel-demontiert-die-schuldenbremse/3283734.html
Merkel profitierte einst jahrelang davon, dass ihr Schröder die Drecksarbeit bereits abgenommen hatte und hinterlässt nun einen Reformstau, der bei jeder Regierung für Alpträume sorgen würde. Das Gejaule der rechtskonservativen Journaille kommt um einige Jahre zu spät.
Es ist auch nicht zum ersten Mal, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung den Karren aus dem Morast ziehen soll, in den ihn eine lobbyverseuchte und geschmierte unionsgeführte Vorgängerregierung gefahren hat.
Herr Kr., hinsichtlich der Sprachkenntnisse ist in der Presse die Meinung geteilt, also die Auftritte von Baerbock und Lindner werden nicht durchgängig als unzureichend angesehen. Manche Sprüche im Netz sind vermutlich tatsächlich unangemessen, aber vielleicht können wir uns auf den der Gladbacher Fohlen einigen, die in ihrem Borussia-Forum schreiben, „Wir spielen so wie Baerbock englisch spricht“, denn deren Spiel kann so katastrophal schlecht nicht sein, sie rangieren in der Tabelle vor unserem FCA (und der hat immerhin den Tabellenführer geschlagen).
Was allerdings Lindners Nachtragshaushalt für 2021 angeht, so ist der Vorwurf nicht zu entkräften, dass es keinen Grund für das Haushaltsjahr 2021 gibt, einen weiteren Nachtragshaushalt aufzustellen. Wenn sich Politiker einer Partei, die sich immer ganz besonders als Hüterin des Grundgesetzes darstellt, daran beteiligen, dann muss man keine prophetischen Gaben besitzen, wo diese Partei bei der nächsten Wahl landen wird. Oder glaubt die Partei wirklich, ihren jungen Wähler verkaufen zu können, dass sie im Interesse künftiger Generationen dieses unsaubere Spiel betreibt. Und wer Maybrit Illners Talk-Show diese Woche gesehen hat, der hat den Eindruck mitgenommen, dass alle Beteiligten bewusst gegen das Grundgesetz verstoßen.
(In der von Ihnen genannte Quelle - Handelsblatt aus 2009 - fand ich keine Parallele zur jetzigen Situation.)
"vielleicht können wir uns auf den der Gladbacher Fohlen einigen"
Herr Eimiller, an mir wird da eine Einigung nicht scheitern. Zu meiner Schande muß ich aber gestehen, das mir der Bundesligafußball incl. FCA und Gladbach noch um einiges mehr egal ist als das Englisch von Baerbock und Lindner.
Eine leichte Modifikation des von Ihnen angeführten Fohlen-Zitats sehen Sie mir bitte nach: "Frau Baerbock spricht mindestens so gut englisch wie Edmund Stoiber deutsch". Mal ganz abgesehen vom derzeitigen stellv. Ministerpräsidenten Bayerns. Wie es um Seehofers Englisch-Kenntnisse steht, weiß ich nicht, habe aber eine leise Ahnung . . .
Nachtragshaushalte gab es sowohl unter Merkel als unter Kohl.
Maybrit Illners Talk-Show sah ich auch. Am meisten beeindruckt hat mich da Daniel Cohn-Bendit und mit welcher Sachlichkeit und Ruhe sich der neue SPD Parteichef Klingbeil dem F. Merz argumentativ mindestens gewachsen zeigte.
Volle Zustimmung.
Diese Effekthascherei und Kritik an der neuen Regierung, die gerade mal erst eine gute Woche im Amt ist, ist einfach billig und unfair.
Aber für Rudi Wais sind und bleiben die Konservativen trotz allem einfach die Besseren fürs Regieren. Woher kam denn dann die Wahlniederlage? Darüber schweigt sich der Kommentator aus. Lieber erst mal Draufhauen auf die Neuen anstatt ihnen erst mal die
nötige und gebotene Zeit für ihren Neustart zu geben.
Der Schmerz über die Wahlniederlage der Konservativen scheint immer noch sehr tief zu sitzen beim Wais Rudi. Lesen wir nun jede Woche einen eher bemühten als inhaltsschweren und originellen Leitartikel, in dem er die Ampel-Regierung schlechtzureden versucht? Gähn.
Selbst ehemalige Stammwähler der Union sind für (den dringend erforderlichen) Fortschritt in Deutschland. Nach den großen Enttäuschungen der Merkel-Regierung sind manche von ihnen sogar auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat.
Aber der Start der Ampel kann nun wirklich nicht überzeugen, z. B. Aushebeln der Schuldenbremse mit einem verfassungswidrigen Nachtragshaushalt 2021 oder mangelhaftes Englisch beim Spitzenpersonal (sehr viel Häme im Netz) machen kaum Hoffnung.