
Erdogans Niederlage wäre ein Sieg für eine demokratische Türkei

Umfragen in der Türkei deuten auf ein Aus für Erdogan hin. Unklar ist, ob das Oppositionsbündnis den Aufgaben gewachsen ist – doch der Wechsel wäre ein Wert an sich.
Was die Deutschen sich von der Wahl in der Türkei erhoffen, ist eindeutig: Mehr als 81 Prozent wünschen sich laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, dass der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan am Montag nach einer voraussichtlich langen Wahlnacht als Verlierer dasteht.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen werden weltweit mit einem Interesse erwartet, das beispiellos ist. Doch was ist die Sicht von außen im Vergleich zu der Spannung, mit der die Türkinnen und Türken den ersten Prognosen am Sonntag gegen 20 Uhr entgegenfiebern. Es geht um viel, manche sagen, um alles.

Man stelle sich vor, dass in Deutschland Bundestagswahlen vor einem derart dramatischen Hintergrund ablaufen würden: Eine Inflation von – je nach Quelle – 40 bis 80 Prozent, eine verheerende Erdbebenkatastrophe, drohende Wahlmanipulationen, Steinwürfe und wüste Beleidigungen im Wahlkampf, ja kaum verklausulierte Morddrohungen durch den Verbündeten Erdogans, Devlet Bahçeli – der Chef der Rechtsradikalen MHP drohte dem Kandidaten des Oppositionsbündnisses, Kemal Kilicdaroglu, und seinen Partnern im Oppositionsbündnis mit „hohen Haftstrafen“ oder gar „einer Kugel“.
Die Chancen für einen Machtwechsel sind nach fast allen Umfragen gut, seit Donnerstag noch besser. Der Rückzug des linkspopulistischen Politikers Muharrem Ince sollte das potenzielle Wählerreservoir Kilicdaroglus vergrößern.
Dass Erdogan vor Gericht verurteilt wird, ist äußerst unwahrscheinlich
In Istanbul, Ankara, Izmir oder in den vielen tausend Kleinstädten und Dörfern wird jedoch darüber diskutiert, ob Erdogan eine Niederlage akzeptieren würde. Dass immer wieder gerade im Westen genannte Argument, dass er sich schon deswegen an die Macht klammern müsse, weil ihm sonst Strafverfolgung drohen würde, geht weitgehend ins Leere. Um ihn vor Gericht zu bringen, bedürfte es einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Und selbst wenn er sich verantworten müsste, würden 15 Richter über ihn urteilen, die samt und sonders von der Erdogan-Partei AKP ernannt wurden. Gleichzeitig werden am Sonntag zigtausend Bürgerinnen und Bürger in den Wahllokalen und bei der Stimmenauszählung dabei sein, um Manipulationen zu verhindern.
Was aber würde sich bei einem Machtwechsel ändern? Innenpolitisch steht Kilicdaroglu im Wort, umgehend politische Gefangene freizulassen, die Unabhängigkeit der Justiz und der Presse wiederherzustellen, sowie aus dem Präsidialsystem wieder eine parlamentarische Demokratie zu formen und die abstürzende Konjunktur zu stabilisieren. Doch die Widerstände im Staatsapparat, der seit 20 Jahren von der Erdogan-Partei AKP an den Schaltstellen mit Gefolgsleuten bestückt wurde, dürften erheblich sein – auch ist jeder sechste Türke Mitglied der AKP.
Das Oppositionsbündnis ist äußerst heterogen
Zudem ist das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien äußerst heterogen. Ob diese Koalition über eine längere Zeit an einem Strang ziehen wird, ist zumindest zweifelhaft. Als sicher kann hingegen gelten, dass Kilicdaroglu als neuer Präsident auf den Westen zugehen wird. Das bedeutet aber nicht, dass er die türkische Politik gegenüber Russland, in Syrien oder in der Zypern-Frage auf den Kopf stellen wird.
Trotz aller Unwägbarkeiten wäre der Wechsel ein Wert an sich, Lebenszeichen einer in weiten Teilen der Bevölkerung verankerten Demokratie. Europa und Deutschland sollten diesen Prozess unterstützen, wenn der Sieger tatsächlich Kemal Kilicdaroglu heißt.
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