Wann ergreift die Politik die Initiative gegen Missbrauch in der Kirche?

20.01.2022

Das "Denkmal Benedikt XIV." dürfte nach der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens nachhaltig beschädigt sein. Auch Kardinal Marx ist es. Eine erste Einschätzung.

Mit jedem weiteren Missbrauchsgutachten verlieren die katholische Kirche und wichtige ihrer Repräsentanten drastisch an Glaubwürdigkeit. Vom Heiligenschein bleibt nur mehr Schein.

Vom Sockel gestürzt wurde unter anderem der frühere, bereits gestorbene Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner. Der führte nicht nur einen Aktenordner mit dem zynischen Titel „Brüder im Nebel“, er wurde auch der Lüge überführt. Sein „Nichts geahnt, nichts geahnt!“ ist zu einem geflügelten Wort geworden. Auch der Sockel, auf den der zurückgetretene „bayerische PapstBenedikt XVI. (Joseph Ratzinger) noch zu Lebzeiten von seinen Verehrerinnen und Verehrern gestellt wurde, bröckelte gewaltig in den vergangenen Jahren. Nach einem ersten Eindruck von der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) an diesem Donnerstag dürfte das „Denkmal Benedikt“ nachhaltig beschädigt sein.

Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., will keine Kenntnis gehabt haben

Keine Kenntnis, keine Kenntnis – das war und ist die Verteidigungslinie von Ratzinger und seinem Umfeld. Sie wird es bleiben. Ungeachtet dessen werfen ihm die Münchner Anwälte Fehlverhalten in vier Fällen vor, und der Verdacht liegt nahe, dass er sogar die Unwahrheit gesagt haben könnte. Im Fall "Peter H.", der die Weltpresse seit 2010 beschäftigt, bescheinigen die Anwälte Ratzinger, er habe "überwiegend wahrscheinlich" sehr wohl Kenntnis von H.s Vorgeschichte gehabt.

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Foto: Sven Hoppe, dpa
Foto: Sven Hoppe, dpa

Joseph Ratzinger war einst Münchner Erzbischof, danach führte ihn seine Karriere bis an die Spitze der katholischen Kirche. Inzwischen ist er der emeritierte Papst Benedikt XVI.

Priester H. war 1980 nach sexuellen Übergriffen gegen Kinder ins Erzbistum München und Freising versetzt worden, um dort therapiert zu werden. H. wurde dennoch als Seelsorger eingesetzt – und missbrauchte jahrzehntelang wieder Kinder. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof und anschließend als Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan mit Missbrauchsfällen befasst.

Auch amtierende Bischöfe in Deutschland kommen zunehmend in Erklärungsnöte, mehr oder minder belastet von (noch nicht geprüften oder plausibel klingenden) Vorwürfen und von Fakten. Ihr fortgesetztes Versagen im Umgang mit Missbrauchsfällen – mit Tätern wie Betroffenen – ist ein Versagen des Systems genauso wie persönliches Versagen. Keines von beiden kann als Ausrede herhalten oder zur Entlastung angeführt werden.

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Kardinal Reinhard Marx sollte Papst Franziskus nun abermals seinen Amtsverzicht anbieten

Wirklich spürbare Konsequenzen hatten Versagen oder Vertuschen bislang dennoch für kaum einen deutschen Bischof. Auch nicht für den Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Ihm wird Fehlverhalten in zwei Missbrauchsverdachtsfällen vorgeworfen. Dabei geht es um die Einleitung von im Kirchenrecht vorgeschriebenen Maßnahmen. Bei der Vorstellung des Gutachtens sagte Anwalt Martin Pusch, dass dies kein "Freibrief" für Marx sei. Im Gegenteil. Marx sei nur mit einer geringen Zahl von Fällen überhaupt befasst gewesen und habe "auf die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit ihm unterstellter Funktionsträger" verwiesen. "Wann, wenn nicht im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist die Einordnung einer Thematik als Chefsache zutreffend?", fragte Pusch - und brachte damit das Bild von Marx als entschiedenen Aufklärer massiv ins Wanken. Noch ein Sturz vom Sockel.

Marx selbst hatte in seinem – abgelehnten – Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus im vergangenen Sommer geschrieben, es könne „nicht ausreichen, die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme zu beschränken auf aus den Überprüfungen der Aktenlage hervorgehende vor allem kirchenrechtliche und administrative Fehler und Versäumnisse“. Meint er das noch ernst, müsste er nun dem Papst abermals seinen Amtsverzicht anbieten. Obwohl er mehrfach beteuert hatte, bei der Gutachten-Präsentation persönlich anwesend sein zu wollen, blieb er ihr fern. Für diesen Donnerstagnachmittag hat er ein Statement angekündigt.

Es geht nicht darum, einen Bischof nach dem anderen aus dem Amt kegeln zu wollen

Der Punkt ist, und er ist es unverändert seit Jahren: Es geht um echte, umfassende und dadurch glaubwürdige Verantwortungsübernahme – inklusive Zahlungen an Betroffene, die diese weder erkämpfen, erbetteln oder als Almosen empfinden müssen. Geld heilt keine Wunden, aber es hilft, sie zu versorgen.

Um auch das klar zu sagen: Es geht nicht darum, einen Bischof nach dem anderen aus dem Amt kegeln zu wollen. So lautet ja der Vorwurf, der Betroffenen, Journalistinnen oder Wissenschaftlern, die nicht müde werden, den Missbrauchsskandal zu thematisieren, fortwährend entgegenschallt.

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Foto: Tobias Hase, dpa
Foto: Tobias Hase, dpa

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx hatte im vergangenen Sommer wegen des Missbrauchsskandals auf sein Amt als Erzbischof verzichten wollen. Papst Franziskus lehnte seinen Rücktritt aber postwendend ab.

Müde zu werden droht angesichts der nicht abreißenden, stückweisen Enthüllungen und des „Kreislaufs des Scheiterns“ (Jesuitenpater Klaus Mertes) kirchlicher Aufarbeitungsbestrebungen vor allem die breite Öffentlichkeit. Sie hat sich längst voller Entsetzen und Überdruss ein Bild von „der“ Kirche gemacht. Ob es der vielgestaltigen Kirche gerecht wird, spielt dabei keine Rolle mehr. Am Mittwoch wurde eine Forsa-Erhebung veröffentlicht: Ihr zufolge haben nur noch zwölf Prozent der Befragten großes Vertrauen zur katholischen Kirche. 2017 lag der Wert bei 28 Prozent.

Der Missbrauchsskandal und der Umgang mit ihm ist zu einer zentralen Überlebensfrage für die katholische Kirche geworden

Konkret heißt das: Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr ministrieren oder ins Zeltlager fahren. Meldet sich ein Bischof zu einem politischen Thema zu Wort – wie der geplanten Abschaffung des „Werbeverbots“ für Abtreibungen durch Streichung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches –, dann wird ihm kaum Gehör geschenkt. Typische Reaktion: Die Kirche solle sich gefälligst nicht einmischen und den Dreck vor der eigenen Türe wegkehren.

Deutlicher als der FDP-Politiker Wolfgang Heubisch, einer der Vizepräsidenten des Bayerischen Landtags, kann man es nicht sagen – Heubisch twitterte am Mittwoch: „Abschaffung von 219a: Für mich ist die Kirche in dieser Frage nicht relevant. Wer seit vielen Jahren Missbrauch und sexualisierte Gewalt der eigenen Leute gegenüber Kindern & Jugendlichen vertuscht und negiert, hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren.“

Mit von Juristen festgestellten "Pflichtverletzungen" argumentierte Jesus jedenfalls nicht

Der Missbrauchsskandal und der Umgang mit ihm ist zu einer zentralen Überlebensfrage für die katholische Kirche in Deutschland in ihrer heutigen Verfasstheit geworden. Es wäre in ihrem ureigensten Interesse, endlich Kontrolle ab- und damit den Weg freizugeben für einen Aufarbeitungsprozess, der sich mit Recht unabhängig nennen lassen könnte – und der nicht mehr in weiten Teilen von der Kirche selbst mitbestimmt wird. Sie beauftragt Gutachten, sie schickt ihre Vertreterinnen und Vertreter in Beiräte und Kommissionen, sie „gewährt“ Akteneinsicht …

Wann endlich ergreift hier die Politik die Initiative? Wann schafft sie die Voraussetzungen zum Beispiel für eine staatlich eingesetzte unabhängige Kommission? Die Zeit drängt und läuft ab: Viele Täter sind schon gestorben, Betroffene teils im hohen Alter.

So lange an entscheidenden Stellen jedoch die Sorge der Kirche nach wie vor nicht in erster Linie und bedingungslos den Missbrauchsopfern gilt, sondern dem Schutz der Organisation und ihrer Strukturen, so lange wird es bei einem Durch- und Nebeneinander von Gutachten, Beiräten, Beteuerungen bleiben und die Aufarbeitung nicht wesentlich vorankommen.

Und so lange wird man an die Jesusworte erinnern müssen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Sowie: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ Mit von Juristen fest- oder nicht festgestellten "Pflichtverletzungen", dem Kirchenrecht oder "keiner Kenntnis" argumentierte Jesus jedenfalls nicht.

Kirche nicht als Kitt, sondern als spaltende Kraft – das ist für niemanden gut

Es gibt einen weiteren, noch nicht genug beachteten, noch nicht genug diskutierten, noch nicht genug in seinen Auswirkungen durchdrungenen Aspekt: Die Missbrauchstaten und das Handeln/Nicht-Handeln von Kirchenverantwortlichen und gleichermaßen Laien, die wegschauten, haben zu einem Verlust der für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtigen Bindekraft der Kirche geführt (Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner). Kirche nicht als Kitt, sondern als polarisierende, spaltende Kraft – soweit ist es gekommen und auch das ist nicht gut, für niemanden.

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