Es sind auffällige Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik: Im vergangenen Jahr nahm die Gewaltkriminalität unter Kindern um 11,3 Prozent zu, bei Jugendlichen stieg sie um 3,8 Prozent. Das geht aus Zahlen hervor, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, am Mittwoch in Berlin vorstellten. Gleichzeitig stieg die Gewaltkriminalität in Deutschland nur um 1,5 Prozent. Woher kommt der starke Anstieg bei Kindern und Jugendlichen? Und was lässt sich dagegen unternehmen?
„Anhaltende Belastungen infolge der Corona-Pandemie sind speziell bei dieser Altersgruppe ein möglicher Treiber für Delinquenz,“ meinte Münch. Insgesamt zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik, dass die Kriminalität von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu 2023 um 2,3 Prozent beziehungsweise 6,9 Prozent zurückgegangen ist. Allerdings ist die Gewaltkriminalität gestiegen, unter diesen Begriff fallen beispielsweise Raub oder schwere Körperverletzung.
Jugendgewalt steigt in Deutschland seit Jahren an
Die Kriminologin Susann Prätor kommt jedoch zu einer anderen Einschätzung als der BKA-Chef: „Die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen steigt nicht erst seit der Corona-Pandemie“, sagte die Professorin der Polizeiakademie Niedersachsen unserer Redaktion. Sie beobachtet einen Anstieg bereits seit 2015. Trotzdem: „Die Pandemie hat Faktoren verstärkt, die zu Gewalt führen können“.
Ein Faktor, der zu einem Anstieg von Jugendgewalt beitragen kann, ist die negative Haltung zur Schule. Hier sieht Prätor einen Zusammenhang zur Corona-Pandemie: „Wir baden jetzt die Maßnahmen wie Schulschließungen, aber auch Schließungen im Vereins- und Sozialleben, aus.“ Eine negative Haltung zur Schule sei durch Home-Schooling oder Schulausfälle begünstigt worden. Während der Pandemie seien die Jugendlichen nicht abgeholt worden.
In Schulen lernten Kinder und Jugendliche Sozialverhalten, was sich beispielsweise auf ihre Fähigkeit auswirkt, Konflikte zu lösen, erklärte die Expertin. Das sei dann aber über einen gewissen Zeitraum weggefallen.
Gewalt unter Jugendlichen: Innenministerin fordert Prävention in den Schulen
Die Schulen sind deshalb auch ein wichtiger Ort für Gewaltprävention. Bundesinnenministerin Faeser forderte in Berlin eine flächendeckende Schulsozialarbeit und eine bessere psychosoziale Versorgung, um Probleme rechtzeitig zu erkennen. Auch Susann Prätor sieht eine große Bedeutung in der schulischen Integration. Sie verweist zudem auf die soziale Integration, wie sie beispielsweise in Vereinen stattfinden. „Wer auf gesellschaftlicher Ebene Anerkennung findet, wird eher nicht gewalttätig“, sagte sie.
Holger Münch gibt bei der Suche nach Ursachen für die Zunahme von Gewalt zu bedenken, dass auch langfristige Verschiebungen beobachtet werden müssen. Dabei hat er die Gewalt und Verrohung im Blick, welche in den sozialen Medien stattfindet. Die Expertin Prätor sieht hier einen Aspekt, der sich ebenfalls während der Pandemie verschärft hat, denn in dieser Zeit verbrachten Kinder und Jugendlichen besonders viel Zeit auf sozialen Medien. Sie beobachtet hier eine „Salonfähigkeit von Gewalt“, mit der Jugendliche ungefiltert konfrontiert werden. Auch wenn es bisher keinen direkten empirischen Zusammenhang gebe, könne das dazu führen, dass Gewalt als legitimes Mittel akzeptiert werde.
Vor allem Jungen werden gewalttätig
In den sozialen Medien kommen Kinder und Jugendliche laut Prätor aber auch mit einem weiteren Faktor in Berührung, der Gewalt begünstigt: Männlichkeitsnormen. „Darunter versteht man beispielsweise Annahmen wie: ‚Ein richtiger Mann ist stark und kann sich wehren‘“, erklärte sie. Denn der gesamtgesellschaftliche Trend, dass hauptsächlich Männer Gewalt ausüben, setzt sich auch bei Kindern und Jugendlichen fort: Es sind vor allem Jungen, die gewalttätig werden.
Ein Risikofaktor für Kinder- und Jugendgewalt ist deshalb auch die häusliche Gewalt. Insbesondere während der Pandemie hat diese zugenommen und Kinder wurden häufiger Zeugen der Gewalt. Dadurch steigt die Gefahr, dass sie diese Verhaltensmuster übernehmen.
In der Prävention von häuslicher Gewalt und in der gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern sieht Prätor deshalb einen wichtigen Baustein, um auch die Gewalt von Kindern und Jugendlichen auf lange Sicht einzudämmen. Wichtig sei außerdem, dass schnell auf die Gewalt reagiert werde. Damit meint Prätor weniger strafrechtliche Konsequenzen als Sanktionen durch Lehrer, Eltern oder Mitschüler. „Das Problem wird sich nicht verwachsen, wir müssen jetzt in unsere Kinder investieren“, mahnte sie.
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