
Das Rätsel um die verschwundenen Frauen in Mexiko

Seit Jahresbeginn sind in Mexikos Bundesstaat Nuevo León über 300 Frauen verschwunden. Die schleppend ermittelnden Behörden geraten nach dem Mord an einer 18-Jährigen unter Druck.
Es war der 8. April, als Debanhi Escobar das tat, was Mädchen in ihrem Alter auf der ganzen Welt freitags so tun: Die 18-jährige Mexikanerin aus Monterrey ging mit zwei Freundinnen auf eine Party. Doch Debanhi kehrte in dieser Nacht nicht nach Hause zurück – und auch nicht in den folgenden. Ihr Schicksal steht für Hunderte: Gewalt gegen Frauen wird zum massiven Problem in Mexiko.
Der Fall Debanhi veranschaulichte das deutlich: Bei ihren Ermittlungen fand die Staatsanwaltschaft zunächst zwar nicht das gesuchte Mädchen selbst – dafür aber sieben weitere vermisste Mädchen. Denn schon seit Anfang des Jahres wird die nördliche Industrieregion Nuevo León von einer Serie von Entführungen und Frauenmorden erschüttert. Doch erst jetzt kommt die dortige Regierung unter Druck. Und das ist dem letzten Foto von Debanhi zu verdanken, das in Mexiko eine Welle der Empörung auslöste.
Der Fahrer brachte die 18-Jährige nicht nach Hause
Debanhi und ihre Freundinnen trennten sich an jenem Abend auf der Party, ihre Freundinnen nahmen zusammen ein Taxi. Für Debanhi hätten sie einen befreundeten Fahrer gerufen, erklärten sie. Doch der Fahrer brachte das junge Mädchen nicht nach Hause. Debanhi habe früher aussteigen wollen, behauptete er gegenüber ihren Eltern und schickte zur Bestätigung ein unscharfes Foto, aufgenommen um 4.24 Uhr.
Man sieht darauf eine schlanke, große junge Frau mit weißem Top, schwarzem Mundschutz, langem braunen Rock und Tennisschuhen. Mitten in der Nacht, mutterseelenallein auf der Landstraße von Monterrey nach Nuevo Laredo, die im Volksmund als „Todesstraße“ bekannt ist, weil sie unter Kontrolle der Drogenkartelle steht.
Oft ist in Mexiko die Polizei in den Menschenhandel verstrickt
Das Foto wurde in den sozialen Netzwerken rasch zum Fanal der Feministinnen und zu einer Anklage gegen den Machismo und versagende Behörden. „In dem Fall gibt es so viele Zweifel, Unregelmäßigkeiten und Fragen, die von den Behörden nicht beantwortet werden“, kritisierte Leticia Hidalgo, die Gründerin des privaten Suchtrupps für Verschwundene in Nuevo León. Als Gründe für die furchtbare Entwicklung sehen Experten vor allem das im Land verbreitete Männlichkeitsbild. Oftmals kommen die Täter sogar aus dem engeren familiären Umfeld. Aber auch die vielen kriminellen Banden, die ihr Geld mit Menschenhandel verdienen, spielen eine Rolle. Nicht selten ist die Polizei in deren Geschäfte verstrickt.
Seit Jahresbeginn verschwanden laut offiziellen Angaben 327 Frauen allein in Nuevo León, einige von ihnen wurden inzwischen tot aufgefunden, 33 werden noch vermisst. In ganz Mexiko wurden 2021 fast 2000 Frauen als vermisst gemeldet. „Was ist hier bloß los?“, fragte Anfang April die auf Feminismus spezialisierte Journalistin Mariana Limón Rugerio in einem Leitartikel. Von den Behörden kamen wenig zufriedenstellende Antworten. Eine auf Frauenentführungen spezialisierte Bande könne man ausschließen, beeilte sich der lokale Staatsanwalt zu behaupten – ohne das zu begründen. Die Behörden riefen zwar eine Sondereinheit ins Leben. Aber die Ermittlungen kamen nur schleppend in Gang und waren von Pannen überschattet.
Angehörige müssen selbst ermitteln, was mit den Opfern passiert ist
Die 27-jährige Buchhalterin Maria Fernanda Contreras etwa verschwand am 6. April. Ihre Familie konnte ihr Handy lokalisieren und alarmierte die Polizei, doch die traf nie an dem Ort ein. Von den sieben angeblich entdeckten Mädchen und Frauen im Rahmen der Suche nach Debanhi teilten die Behörden nicht einmal mit, ob sie tot oder lebendig aufgefunden wurden. Im Falle Debanhis war es ihr Vater Mario, der die wichtigsten ersten Hinweise lieferte. Er kontaktierte die Freundinnen, machte den Fahrer ausfindig und machte Druck, um die Sicherheitskameras der Unternehmen entlang der Straße zu checken.
Mit ihnen fand er auch schnell eine Erklärung, weshalb seine Tochter aussteigen wollte. Auf den Bildern ist zu sehen, wie der Fahrer nach ihren Brüsten greift und Debanhi dann raschen Schrittes auf die gegenüberliegende Seite der Straße wechselt und auf ein – zu dem Zeitpunkt angeblich unbesetztes – Wächterhäuschen zuhält. Man sieht, wie sie sich über ihr Telefon beugt. Was danach passierte, ist bislang unklar. Auf den Sicherheitskameras fehlen laut Escobar die folgenden zehn Minuten – es waren wohl die entscheidenden.
Vorigen Freitag nun fanden die Ermittler schließlich die Leiche der 18-Jährigen unweit der Straße in einer alten Wasserzisterne, nachdem die Angestellten des benachbarten Motels auf den Verwesungsgeruch aufmerksam geworden waren. All diese Grundstücke waren in den Tagen davor von Hundertschaften durchkämmt worden. Debanhi starb dem offiziellen gerichtsmedizinischen Bericht zufolge durch einen Schlag auf den Kopf; ob sie Opfer sexueller Gewalt wurde, sei noch unklar. „Wir sind es so leid, dass wir unsere Töchter tot zurückbekommen“, sagte ihr Vater, Mario Escobar.
Demonstranten gehen für die toten Frauen in Mexiko auf die Straße
„Die Gewalt gegen Frauen hat neue Gestalt angenommen“, warnt auch Limón Rugerio. „Die meisten Morde geschehen nicht mehr im häuslichen Umfeld, sondern auf offener Straße. Und sie nehmen an Brutalität zu.“ Das UN-Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen verzeichnet seit Beginn der Pandemie einen alarmierenden Anstieg von verschwundenen Kindern, Jugendlichen und Frauen.
Am Wochenende gingen in ganz Mexiko Tausende auf die Straßen, um Gerechtigkeit für die ermordeten und verschleppten Frauen zu fordern. „Der Staat versagt und verursacht vielen Familien unsägliches Leid. Das wollen wir nicht hinnehmen“, sagte eine der vielen Teilnehmerinnen.
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